
Der 17. Juni Aufstand
Nachdem Walter Ulbricht im Juli 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ verkündete, führte die Umsetzung zu wirtschaftlicher Destabilisierung, massenhafter Fluchtbewegung und wachsender Unzufriedenheit. Die Erhöhung der Arbeitsnormen im Mai 1953 ohne Lohnausgleich löste am 15. und 16. Juni erste Proteste in Ost-Berlin aus, die sich am 17. Juni auf über 700 Orte ausweiteten. Die Protestierenden forderten grundlegende Reformen – von freien Wahlen über die Wiedervereinigung bis zur Ablösung der SED-Führung. Der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen: mindestens 50 Menschen kamen ums Leben, über 15.000 wurden inhaftiert. Die DDR-Führung diffamierte den Protest als „faschistische Provokation“. Der Deutsche Bundestag in Bonn beschloss noch im selben Jahr, den 17. Juni fortan als gesetzlichen Feiertag zu begehen.1
Vom Volksaufstand zum „Deutschen Sozialismus“?
In konservativen bis rechtsextremen Diskursen wird der 17. Juni 1953 häufig als Ausdruck eines „nationalen Erwachens“ gegen sozialistische Fremdherrschaft gedeutet. So etwa im Freilich-Magazin, das dem burschenschaftlichen Milieu und der Neuen Rechten nahesteht: In einem Kommentar vom 17.06.2025 wird behauptet, „die Sowjetpanzer rollten – aber auch der nationale Wille.“ Der Aufstand wird als nationale Erhebung gegen den „sowjetischen Kollektivismus“ wie gegen den „westlichen Materialismus“ gedeutet. Angeblich wäre die Idee eines „deutschen Sozialismus“ damals weit verbreitet gewesen2 – eine Vorstellung, die mit den tatsächlichen, pluralistischen Forderungen wenig zu tun hat.
Neurechte Traditionslinien
Diese geschichtsrevisionistische Deutung hat ideologische Wurzeln, die bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichen. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten nationalistische und völkische Akteure, sich von der diskreditierten Monarchie zu distanzieren und zugleich Anschluss an die aufstrebende Arbeiter:innenbewegung zu finden.3 Die Vorstellung eines „Deutschen Sozialismus“ entwickelte sich zu einer zentralen Chiffre völkisch-nationaler Weltdeutungen. Prägend war dabei Paul Tafel, ein antisemitischer Ingenieur aus München, der dem Deutschen Schutz- und Trutzbund angehörte und früh der NSDAP beitrat (Mitgliedsnummer 670).4 In seinem Hauptwerk „Das Neue Deutschland“ forderte er 1920 einen „Rätestaat auf nationaler Grundlage“ bzw. einen „deutschen Sozialismus“ an Stelle der „Scheindemokratie der Westmächte.“5 Ziel war es nicht, sozialpolitisch zu reformieren, sondern unter Ablehnung liberaler und marxistischer Positionen eine völkisch geprägte Gesellschaftsordnung zu entwerfen.6
Rechtes Framing
Diese Traditionslinien prägen die extreme Rechte bis heute. Die Deutung des Aufstands als nationalistische Erhebung verzerrt die tatsächlichen Anliegen der Protestierenden. Sie blendet die Vielstimmigkeit und die Forderung nach politischen und sozialen Freiheiten aus. Zwar gab es auch nationalistische und revisionistische Stimmen – etwa mit Blick auf die Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze7 –, doch handelte es sich insgesamt um eine vielschichtige Reaktion auf politische Repression, wirtschaftliche Not und mangelnde Freiheit. Die Bezugnahme auf den „deutschen Sozialismus“ dient dabei als strategisches Mittel der semantischen Verschleierung. Durch diese Form der „Umwegkommunikation“ kann eine autoritäre, völkische Agenda transportiert werden, ohne offen mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht zu werden. Der scheinbare Bruch mit totalitären Ideologien ist dabei Teil einer bewussten Inszenierung, die darauf abzielt, antidemokratische Positionen unter dem Deckmantel geschichtsphilosophischer Begriffe zu rehabilitieren.
Die Demokratie als Fortführung der SED-Diktatur?
Diese Umdeutungsstrategie findet sich auch in politischen Äußerungen – etwa bei Björn Höcke, dem Vorsitzenden der Thüringer AfD. In einem Post auf der Plattform X bezeichnete er den 17. Juni als „nationalen Freiheitskampf“ und zog eine Linie zur Gegenwart: Der „neue Totalitarismus“ komme im „bunten Gewand“ – begleitet von "Sprachregelungen, Zensur [...] und mit der Forderung nach Verbot der Opposition." Mit dieser Rhetorik zeichnet Höcke die liberale Demokratie als Fortsetzung der DDR-Diktatur und stellt Pluralismus, geschlechtersensible Sprache sowie die Instrumente der wehrhaften Demokratie unter Generalverdacht. So inszeniert er die AfD als einzige legitime Opposition, die einem vermeintlich neuen Totalitarismus entgegentrete. Dabei relativiert er die Opfer der SED-Herrschaft und verharmlost zugleich das repressive System der DDR.

Rechte Deutungskämpfe um den 17. Juni
Die extreme Rechte nutzt den 17. Juni gezielt, um antidemokratische Narrative anschlussfähig zu machen. Historische Komplexität wird dabei bewusst reduziert – zugunsten einer nationalistisch aufgeladenen Interpretation. Begriffe wie „deutscher Sozialismus“ dienen als Tarnformeln, mit denen autoritäre und völkische Positionen modernisiert und verschleiert werden. Die Gleichsetzung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit der SED-Diktatur verfolgt ein klares Ziel: die Delegitimierung demokratischer Institutionen und die Selbstinszenierung der AfD als vermeintlich einzige Oppositionskraft. So wird Erinnerungspolitik zum Instrument politischer Strategie – und rechte Ideologie nicht nur historisch entlastet, sondern auch für die Gegenwart normalisiert.
[1] Grau, Andreas/Rosenberger, Ruth/Volkwein, Johanna: 17. Juni 1953 - Volksaufstand, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-gruenderjahre/weg-nach-osten/17-juni-1953-volksaufstand.html, (18.06.2025).
[2] Bruno Wolters, Warum der 17. Juni 1953 mehr als nur ein Protest gegen den Sozialismus war, dort datiert 17.06.2025, URL: https://www.freilich-magazin.com/kultur/warum-der-17-juni-1953-mehr-als-nur-ein-protest-gegen-den-sozialismus-war17. Juni 2025 (18. 6. 2025).
[3] Volker Weiß, Das Deutsche Demokratische Reich: Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört, Stuttgart 2025.
[4] Werner Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP: Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt am Main 1965, 177.
[5] Zitiert nach: Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus: Krise und Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main 1975, 175.
[6] Weiß, Das Deutsche Demokratische Reich: Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört, 133–134.
[7] Ilko-Sascha Kowalczuk, 17. Juni 1953: Geschichte eines Aufstands, Bonn 2013, 36.