Was ist Geschichtsrevisionismus?
Der Begriff des Geschichtsrevisionismus beschreibt alle Bemühungen von Einzelpersonen oder Gruppen eine „inhaltliche Umdeutung der historischen Vergangenheit“1 vorzunehmen. Der Wortstamm kommt vom lateinischen Verb revidere und wird in der Regel mit „wieder hinsehen“ übersetzt. Den Geschichtsrevisionist:innen selbst geht es darum, die wissenschaftlich und gesellschaftlich anerkannte Beschreibung und Einordnung (vor allem) der Zeit des Nationalsozialismus zu revidieren. Dafür nutzen die Akteur:innen z.B. die Gleichsetzung mit anderen historischen Ereignissen oder das Ausblenden des historischen Kontexts. Häufig bedienen sich die Geschichtsrevisionist:innen sehr einseitigen oder sogar verfälschten Dokumente bis hin zu Gutachten von angeblichen Expert:innen. Wiederkehrende Themenschwerpunkte sind der Holocaust, d.h. der Massenmord an den europäischen Juden, oder die Frage der Kriegsschuld im Kontext des 2. Weltkriegs.2 Geschichtsrevisionismus ist also ein Angriff auf die Erinnerung einer Gesellschaft.
Was ist der Unterschied zwischen Revision und Revisionismus?
Die Geschichtswissenschaft ist nicht unfehlbar, das würde auch kein:e anerkannte:r Historiker:in behaupten. In der Geschichtswissenschaft ist es durchaus üblich, dass z.B. bei neuer Quellenlage, eine bisher anerkannte Sichtweise einer Revision, d.h. einer Korrektur, unterzogen wird. Die Übernahme des Begriffs durch rechtsextreme Akteur:innen, die sich selbst gern als „Revisionst:innen“ bezeichnen, soll ihnen den Anschein der fachlichen Legitimität verleihen. Die von ihnen herausgegebenen Publikationen versuchen z.T. wissenschaftlich daher zu kommen, in dem mit Fußnoten, Zitaten u.Ä. gearbeitet wird.3 Wissenschaftlichkeit bedeutet jedoch, dass die vorgetragenen Ergebnisse durch andere Wissenschaftler:innen überprüft und nachvollzogen werden können. Orientiert man sich an diesen Kriterien, stellen sich viele (neu-)rechte Veröffentlichungen als pseudowissenschaftlich heraus: Die Quellen sind einseitig ausgewählt oder ganz erfunden und der historische Kontext wird außen vorgelassen bzw. bewusst falsch wiedergegeben. Das Ziel ist nie fundierte Forschung, sondern die Relativierung der Vergangenheit zur Ehrenrettung der eigenen Ideologie.
Worauf zielt der Geschichtsrevisionismus ab?
Ziel dieser Manipulation ist es, das eigene ideologische Vorbild, in der Regel vor allem die NS-Herrschaft, in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. So werden häufig die vermeintlich positiven Seiten des Nationalsozialismus betont und die negativen Seiten, wie etwa der Holocaust, verharmlost, in dem z.B. die Opferzahlen heruntergespielt werden. Durch das Infragestellen der wissenschaftlich und gesellschaftlich anerkannten Darstellung der Vergangenheit wollen die Akteur:innen eigene politische Vorstellungen, die durch den historischen Nationalsozialismus belastet sind, enttabuisieren und anschlussfähig machen. Die so rehabilitierte Vergangenheit soll als mögliche Alternative zur offenen und an den Menschenrechten ausgerichteten, egalitären Gesellschaft präsentiert werden.
Was versteht man unter einem Mythos?
Der Begriff des Mythos stammt ursprünglich aus dem Altgriechischen und meint eine überlieferte Sage oder Geschichte. Heute findet er aber z.T. auch im alltagssprachlichen Gebrauch Verwendung. Mythen sind kollektive Erzählungen, die für eine Gruppe oder eine Gesellschaft einen Sinnzusammenhang oder Orientierung stiften können.4 Sie können auch eine politische Dimension haben, um z.B. eine Staatsform zu legitimieren oder um Einfluss auf die Art und Weise, wie an die Vergangenheit erinnert wird, auszuüben.
Im Sinne dieses Blogs muss jedoch deutlich unterschieden werden: So gibt es Mythen, die eine konkrete, historische Grundlage haben und von der Gesellschaft demokratisch verhandelt und durchaus unterschiedlich interpretiert werden. So könnte man beispielsweise über den „Mythos 1989“ debattieren, wie groß etwa der Einfluss der Zivilgesellschaft, das Zurückhalten der Staatssicherheit oder die Wirkungsmächtigkeit der Bilder im „Westfernsehen“ waren. Dass die „friedliche Revolution“ passiert ist, dürfte aber unbestritten sein. In Abgrenzung dazu gibt es jedoch auch frei erfundene, geschichtsrevisionistische Mythen, die ohne faktische Grundlage existieren. Sie verfolgen ausschließlich das Ziel, Zweifel an der Faktizität der Vergangenheit zu sähen, die Erinnerungskultur anzugreifen und die Ideologie ihrer Akteur:innen zu rehabilitieren. Geschichtsrevisionistische Mythen lassen sich häufig zwar leicht widerlegen, doch haben ihre Akteur:innen in der Regel gar kein Interesse an einem fachlichen Diskurs. Im Gegenteil: Sie wollen eben diesem die Grundlage entziehen. Pluralismus, Meinungsaustausch und der Zwang des stärkeren Arguments sind für sie abzuschaffende Institutionen.
Ist Revisionismus strafbar?
Bestimmte Aspekte des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus, wie z.B. die Leugnung des Massenmords an den europäischen Juden, sind strafbar nach §130 des Strafgesetzbuchs (Volksverhetzung). Die Herabsetzung von Opfern und die Aberkennung historischen Leids negiert ein friedliches Zusammenleben, das sich an der Menschenwürde und den Menschenrechten eines jeden Einzelnen orientiert. Mit der Strafbarkeit der Volksverhetzung sollen Opfer und Angehörige geschützt und potentielle Täter abgeschreckt werden. Auch in vielen anderen Ländern ist die Leugnung historischer Verbrechen strafbar. Ein in Deutschland bekanntes Beispiel ist die im Juni 2024 zu einem Jahr Haft verurteilte Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck.5
Viele Akteur:innen des Geschichtsrevisionismus umgehen jedoch diese Strafbarkeit, in dem sie ihre tatsächliche Meinung nur andeuten, umschreiben oder so formulieren, dass sie von einem Gericht eben nicht als Volksverhetzung erkannt wird.
Warum ausgerechnet Thüringen?
Thüringen ist ein Bundesland mit einer bewegten Geschichte. In jüngerer Zeit gab es jedoch vermehrt Versuche, eben diese in Frage zu stellen, zu kapern oder zu verdrehen. Exemplarisch können hier die zunehmenden Provokationen und Angriffe auf die Thüringer Gedenkstätten Buchenwald oder Mittelbau-Dora genannt werden.6 Auch Äußerungen einzelner Lokalpolitiker, wie z.B. des ehemaligen Oberbürgermeister-Kandidaten Jörg Prophet (AfD) aus Nordhausen, müssen in diesem Kontext genannt werden. Angesichts der Tatsache, dass sich Landes- und Lokalpolitiker in Thüringen immer wieder in geschichtsrevisionistischer Art und Weise äußern, widmet sich dieser Blog vorrangig dem Freistaat. Das Bundesland hat zudem eine einzigartige Geschichte, wie ein kurzer Blick ins 20. Jahrhundert zeigt:
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Ende des Kaiserreichs mit der Niederlage im 1. Weltkrieg; Nationalversammlung in Weimar und Ausrufung der Weimarer Republik (1919) und Gründung des Landes Thüringen (1920)
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Frühe Wahlerfolge der NSDAP und Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung ab 1924 durch die Nationalsozialisten als Mehrheitsbeschaffer
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Im Januar 1930 war Thüringen das erste Land mit einer Regierungsbeteiligung der NSDAP („Baum-Frick-Regierung“)
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Ausbau zum „Mustergau“ unter Fritz Sauckel
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Mit dem seit 1937 existierenden Konzentrationslager Buchenwald befand sich in Thüringen ein zentraler Ort der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus
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Im Zuge der militärischen Niederlage des Deutschen Reichs erfolgte zuerst die Eroberung durch die amerikanischen Streitkräfte und anschließend die Besetzung durch die Rote Armee. Nutzung des ehemaligen KZ Buchenwald unter sowjetischer Administration als Speziallager Nr. 2 (1945-1950)
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SED-Diktatur zwischen 1949 und 1989 und schließlich Wiedergründung des Freistaats Thüringen im Jahr 1990
Gibt es auch linken Geschichtsrevisionismus?
Ja, gibt es. Zum Teil versuchen einzelne Akteur:innen oder Gruppen beispielsweise Verbrechen der Sowjetunion (wie das Gulag-System) oder anderer (ehemaliger) sozialistischer Staaten zu relativieren und zu verharmlosen. Diktaturen und autoritäre Systeme, die den normativen Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, insbesondere die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, ablehnen, müssen von einer aufgeklärten Gesellschaft zurückgewiesen werden.
1 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2019, S. 301.
2 Ebd., S. 302 f.
3 Wolfgang Benz: Die Funktion von Holocaustleugnung und Geschichtsrevisionismus für die rechte Bewegung. In: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.): Strategien der extremen Rechte, 2. Aufl., Wiesbaden 2016, hier S. 211.
4 Herfried Münkler: Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. In: Reinhard Brandt/Steffen Schmidt (Hrsg.): Mythos und Mythologie, Berlin 2004, hier S. 222–223.
5Siehe dazu: Haftstrafe für 95-jährige Holocaust-Leugnerin. Tagesschau, dort datiert 26.06.2024, URL: https://www.tagesschau.de/inland/regional/hamburg/haverbeck-holocaust-leugnerin-haft-100.html#:~:text=Die%2095%2Dj%C3%A4hrige%20Ursula%20Haverbeck,Jahr%20und%20vier%20Monaten%20bekommen (12.07.2024).
6 Für eine ausführliche Übersicht siehe: https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/en/reflexionen/reflexionen-2021/besucher-innen-die-nicht-willkommen-sind (aufgerufen am 24.07.2024)