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Der Mythos der Ewigkeit

„Volk, wie scheinst Du doch verloren / In verwirrend, schwerer Zeit / Volk, und doch bist’ auserkoren / Zu leben, für die Ewigkeit“ – so beginnt ein Gedicht aus einem rechtsextremen Telegram-Kanal. Die Botschaft: Das „deutsche Volk“ sei bedroht, aber für die Ewigkeit bestimmt. Die Rettung? Kollektiver Zusammenschluss, gemeinsamer Kampf. Was wie Heimatlyrik klingt, ist ein ideologisches Programm. Denn wer entscheidet, wer zum ‚Volk‘ gehört? Wann wäre die Ewigkeit erreicht? Was ist das Böse? Auf diese Fragen gibt es keine rationalen Antworten, sondern nur Glaubenssätze. Und genau darin liegt das Problem.

Telegram, Kanal: Patriotische Stimme für Deutschland, frei – unabhängig – patriotisch, 20. Mai 2025 (Screenshot vom 9. November 2025, bearbeitet von Berit Kö)
Telegram, Kanal: Patriotische Stimme für Deutschland, frei – unabhängig – patriotisch, 20. Mai 2025 ©Screenshot vom 9. November 2025, bearbeitet von Berit Kö

Was ist der Mythos der Ewigkeit?

Um zu verstehen, warum das Gedicht so problematisch ist, müssen wir einen Schritt zurücktreten, denn Ewigkeit ist nicht einfach ein häufig verwendetes Wort in rechtsextremen und nationalsozialistischen Texten, sondern sie hat eine ganz spezielle Funktion: Die Argumentation mit der Ewigkeit macht aus politischen Behauptungen unumstößliche Wahrheiten. Wie das funktioniert, hat französische Philosoph Roland Barthes untersucht und „Mythen des Alltags“ analysiert. Als Mythen – er meint damit nicht klassische alte Göttersagen – bezeichnet er kulturelle Muster und Gegebenheiten, die Menschen erfunden haben, die aber so dargestellt werden, als wären sie naturgegeben.1 Genau diese Verwandlung nutzt der Rechtsextremismus systematisch aus. Der Mythos der Ewigkeit behauptet, dass bestimmte Dinge – ‚das Volk‘, ‚die Nation‘, ‚unsere Kultur‘ – schon immer existiert hätten und für immer bewahrt werden müssten. Dabei funktioniert er wie ein Klebstoff, der verschiedene Elemente der Ideologie verbindet. Er schafft aus ihnen ein geschlossenes Weltbild, in dem alles mit allem zusammenhängt. Schauen wir uns drei zentrale Beispiele an:

Telegram, Kanal: Der III. Weg, 28. August 2025 (Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö)
Telegram, Kanal: Der III. Weg, 28. August 2025
©Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö

Der Mythos der gemeinschaftszersetzenden Kräfte

In rechtsextremen Diskursen wird behauptet, dass ständig Feind:innen die Gemeinschaft von innen und außen bedrohen und zerstören wollen. Im Nationalsozialismus wurden so nicht nur politische Gegner:innen, wie Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen, stigmatisiert sondern besonders auch Menschen, die aufgrund ihrer Abstammung, ihrer „Rasse“ (Achtung: Quellensprache!) das ‚deutsche Volk‘ gefährdeten. Heute wird oft argumentiert, die Gefahr gehe von ‚den Migrant:innen‘ aus, von ‚Globalist:innen‘ (antisemitischer Code) oder ‚Gender-Ideolog:innen‘, d. h. politisch vermeintlich sich links positionierenden Menschen.

Auszüge aus Hans Belstler: Du stehst im Volk (1943) (bearbeitet von Berit Kö)
Auszüge aus Hans Belstler: Du stehst im Volk (1943)
©bearbeitet von Berit Kö

Der Mythos des ‚reinen Blutes‘

Im Nationalsozialismus führte die Vorstellung, dass es ‚reine‘ und ‚unreine‘ Menschen gäbe, zu Rassenhygiene und Eugenik. In der Praxis bedeutete dies, dass Menschen systematisch ermordet wurden, die angeblich den ‚gesunden Volkskörper‘ bedrohten. Statt von ‚Rasse‘ ist heute die Rede von ‚ethnokultureller Identität‘, statt von ‚Blutreinheit‘ vom Erhalt und Schaffung einer reinen ‚deutschen Kultur‘. Reinheit ist hier jedoch keine wissenschaftliche Kategorie, sondern eine ideologische Erfindung. Dennoch wird sie als natürliche Tatsache behandelt: Der Mythos macht aus einer Konstruktion eine angebliche Naturgegebenheit.

Telegram, Kanal: Kanal Sturmzeichen, 7. Oktober 2025 (Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö)
Telegram, Kanal: Kanal Sturmzeichen, 7. Oktober 2025 ©Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö

Der Mythos des ‚Heldentodes‘

Der Tod im Kampf wird nicht als Tragödie gesehen, sondern als höchster Dienst für die Ewigkeit. Hier zeigt sich ein scheinbares Paradoxon: Wie kann der Tod als das Ende des biologischen Daseins mit der Ewigkeit, also der nicht endenden Kontinuität, vereinbar sein? Die Antwort liegt in der mythologischen Umdeutung: Der individuelle Tod wird niemals als Ende begriffen, sondern stets als Mittel zur Verwirklichung eines ewigen Ziels. Das Opfer des Einzelnen garantiert angeblich die Fortdauer der Gemeinschaft und wer für ‚das Volk‘ stirbt, lebt ewig weiter in der Gemeinschaft. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde dieser Mythos etabliert und im Nationalsozialismus erreichte die Glorifizierung des Heldentodes ihren Höhepunkt: Der Krieg wurde als Bewährungsprobe verklärt, das Sterben als Erfüllung einer höheren Bestimmung. Heute findet sich diese Rhetorik in rechtsextremen Kreisen wieder. Wer sich diesem Opfergedanken verweigert, wer sein individuelles Leben über die Gemeinschaft stellt, verrät in dieser Logik sein ‚Volk‘. Denn für Individualismus ist kein Platz im mythologischen System der Ewigkeit.

Das Paradoxon der Ewigkeit: Warum der Idealzustand niemals erreicht werden darf

Bezugnahmen auf angeblich ewige Ordnungen, Wahrheiten und Gemeinschaft sind nicht einfach rhetorische Mittel, sondern sie sind Kern rechtsextremer Ideologie.2 So ist etwa die Rede vom ewigen Kampf des ‚Volkes‘ gegen seine Feind:innen, von der Notwendigkeit, sich ewig zu bewähren im Dienste der Gemeinschaft, von ewigen Wahrheiten, wie der angeblichen Überlegenheit der eigenen Kultur oder der ‚natürlichen‘ Ordnung von zwei Geschlechtern. Vom ewigen Werden der Nation, die sich immer wieder neu gegen Bedrohungen durchsetzen muss.

Auszug aus Ernst Krieck: Volk im Werden (1932) (bearbeitet von Berit Kö)
Auszug aus Ernst Krieck: Volk im Werden (1932)
©bearbeitet von Berit Kö

Diese Vorstellung ist zentral: Die Nation, das Volk, die Gemeinschaft sind niemals ‚fertig‘, niemals vollständig, niemals sicher. Sie befinden sich in einem ewigen Prozess der Selbstbehauptung. Und hierin liegt das Paradoxon: Ewigkeit ist ein Zustand ohne Anfang und Ende, ohne Veränderung und Entwicklung. Sobald versucht wird, die Ewigkeit ‚herzustellen‘ oder ‚zu erreichen‘, wird ein Ziel konstruiert, das niemals erreicht werden kann.

Ein historisches Beispiel verdeutlicht dies: Selbst als die NS-Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren lief und Millionen Menschen ermordet wurden, war das Ziel des ‚reinen Volkskörpers‘ nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Definition dessen, wer zum ‚reinen Volk‘ gehörte, wurde immer enger und die Liste der Feind:innen immer länger – weil der Maßstab der ‚Reinheit‘ immer weiter verschärft werden konnte. Die Ideologie des Nationalsozialismus hätte auch ohne militärische Niederlage niemals an ihr Ziel gelangen können – denn dann hätte sie sich selbst überflüssig gemacht. Die Ewigkeit bleibt immer in der Ferne, unerreichbar und legitimiert dadurch permanente Gewalt, permanente Ausgrenzung, permanentes Opfer. Das bedeutet konkret: Menschen müssen ewig sterben, damit die Ewigkeit erreicht werden kann – aber sie darf niemals erreicht werden, damit die Menschen weiter sterben. Das ist die perfide Logik des Mythos der Ewigkeit.

Und heute?

Telegram, Kanal: Identitäre Bewegung Deutschland, 3. Oktober 2025 (Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö)
Telegram, Kanal: Identitäre Bewegung Deutschland, 3. Oktober 2025
©Screenshot vom 12. November 2025, bearbeitet von Berit Kö

Wenn rechtsextreme Akteur:innen und Politiker:innen die Verteidigung der ‚deutschen Kultur‘ fordern,3 dann liegt erstens die Frage nahe, was das überhaupt bedeuten soll – denn was macht denn die ‚deutsche Kultur‘ genau aus – und zweitens, wann dieser Zustand erreicht wäre: Was muss passieren, damit die ‚deutsche Kultur‘ als ‚sicher‘ gilt? Diese Fragen sind symptomatisch für die rechtsextreme Ideologie. Eine rationale Antwort lässt sich auf die erste Frage nicht finden, ‚deutsche Kultur‘ bleibt ein bewusst vage gehaltener Kampfbegriff. Was genau dazugehört, wird nie definiert – denn eine klare Definition würde den Begriff angreifbar machen. Stattdessen bleibt er eine Projektionsfläche, in die jede:r seine eigenen Vorstellungen und Ängste hineinlesen kann.

Die zweite Frage offenbart ein weiteres Problem: Der Zustand der ‚gesicherten deutschen Kultur‘ kann niemals erreicht werden. Denn sobald eine vermeintliche Bedrohung beseitigt wäre, wird die nächste gefunden. Wer definiert, was ‚deutsch genug‘ ist? Reicht ein deutscher Pass? Müssen die Eltern Deutsche sein? Die Großeltern? Und was ist mit Deutschen, die anders denken, anders leben, anders aussehen als das imaginierte Ideal? Diese Denkart ist nicht nur anschlussfähig an nationalsozialistische Ideologie – sie ist genau das.

Diese Dynamik ist kein Zufall, sondern sie ist systemimmanent. Der Mythos der Ewigkeit braucht die ewige Bedrohung. Würde die ‚deutsche Kultur‘ tatsächlich als gesichert gelten, bräuchte es keine AfD mehr, keine ‚Verteidiger:innen‘, keine Mobilisierung. Die Bewegung würde ihre Existenzberechtigung verlieren. Deshalb muss für ihren Erfolg die Gefahr immer präsent bleiben, müssen die Feind:innen immer neu definiert werden: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“.4

Warum rechtsextreme Ideologie eine metaphysische Ebene braucht

Die Antwort ist einfach und beunruhigend zugleich: Ohne die metaphysische Ebene würde das ganze ideologische Gebäude in sich zusammenfallen. Denn auf der rationalen Ebene lassen sich die Kernbehauptungen des Rechtsextremismus nicht halten. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für die Überlegenheit einer ‚Rasse‘ oder Kultur. Es gibt keine ‚homogenen Völker‘, die seit Urzeiten unverändert existieren. Es gibt keine ‚natürliche Ordnung‘, die Hierarchien und Ausgrenzung rechtfertigt. Deshalb weicht die rechtsextreme Ideologie auf eine Ebene aus, auf der Beweise keine Rolle spielen: die Ebene des Glaubens, des Gefühls, der metaphysischen ‚Wahrheit‘. Hier gelten andere Regeln, denn hier muss nichts bewiesen werden, es muss nur gefühlt werden. Hier zählt nicht, was ist, sondern was sein soll. Hier wird nicht argumentiert, sondern verkündet. Diese metaphysische Ebene macht die Ideologie unangreifbar. Wie widerlegt man ein Gefühl? Wie diskutiert man über etwas, das sich jeder Definition entzieht? Wie argumentiert man gegen jemanden, der seine politischen Forderungen als göttlichen Willen, historische Mission oder Naturgesetz ausgibt?

Die Berufung auf Ewigkeit, Schicksal oder höhere Bestimmung verleiht banalen Machtansprüchen eine quasi-religiöse Weihe. Aus „Wir wollen bestimmen, wer hierher gehört“ wird „Das Schicksal des deutschen Volkes steht auf dem Spiel“. Aus „Wir mögen keine Veränderung“ oder „Wir wollen zurück zu einem Ideal“ (das niemals existiert hat!) wird „Die ewige Ordnung muss verteidigt werden“. Aus politischen Gegner:innen werden metaphysische Feind:innen, die nicht nur bekämpft, sondern vernichtet werden müssen.

Der Preis der Ewigkeit

Diese Flucht ins Metaphysische hat einen hohen Preis. Sie macht echte politische Diskussion unmöglich, denn sie verwandelt Meinungsverschiedenheiten in Glaubenskriege. Sie legitimiert Gewalt als heilige Pflicht. Vor allem aber: Sie opfert Menschen für imaginäre Ideale.

Wenn ‚das Volk‘ wichtiger ist als die Menschen, die es ausmachen, wenn ‚die Kultur‘ über dem Leben steht, wenn die ‚Ewigkeit‘ den Tod rechtfertigt – dann haben wir es nicht mehr mit Politik zu tun, sondern mit einer Erlösungsideologie, die bereit ist, über Leichen zu gehen. Das macht Rechtsextremismus so gefährlich: Es gibt keinen Punkt, an dem die Gewalt aufhören würde. Es gibt keine Schwelle, ab der die ‚Reinheit‘ hergestellt wäre. Es gibt keinen Moment, in dem die ‚Gemeinschaft‘ sicher genug wäre. Die Ideologie lebt vom ewigen Kampf, nicht vom erreichten Frieden.

Fazit: Geschichte verstehen, Gegenwart einordnen

Der Mythos der Ewigkeit zeigt exemplarisch, warum historische Aufklärung so wichtig ist. Rechtsextreme Ideologie präsentiert sich oft als ‚neu‘, als ‚Alternative‘ zum bestehenden System. Doch wer die Geschichte kennt, erkennt die alten Muster: die Berufung auf metaphysische Wahrheiten, die Konstruktion von Feindbildern, die Sehnsucht nach einer imaginierten Vergangenheit. Besonders wichtig ist dabei die Erkenntnis über die Funktionsweise der Ewigkeit: Sie ist nicht einfach ein fernes Ziel, auf das hingearbeitet wird. Sie ist ein strukturelles Prinzip, das permanente Gewalt legitimiert. Die Ewigkeit kann nicht erreicht werden – und darf es auch nicht, denn sonst würde die Ideologie ihre Daseinsberechtigung verlieren. Gleichzeitig immunisiert sich der Mythos der Ewigkeit gegen Kritik: Wer nach Beweisen fragt, wird als Teil der Bedrohung markiert. Wer die angeblich ewigen Wahrheiten anzweifelt, bestätigt in den Augen der Gläubigen nur deren Notwendigkeit. Es handelt sich um ein in sich geschlossenes System ohne Ausgang.

Der Mythos der Ewigkeit ist verführerisch, weil er Sicherheit in einer unsicheren Welt verspricht. Aber diese Sicherheit ist eine Illusion – erkauft mit Ausgrenzung, Gewalt und der Aufgabe individueller Freiheit. Die Alternative mag unbequemer sein: Eine Welt ohne ewige Gewissheiten, in der das gesellschaftliche Zusammenleben immer wieder neu verhandelt werden muss. Aber es ist die einzige Welt, in der alle Menschen einen Platz haben – nicht nur die, die ins mythische Bild passen.

 

[Autorin: Berit Kö]

[1] Roland Barthes: Mythen des Alltags, Paris 1957.

[2] Bereits 1947 konstatierte Victor Klemperer in seiner berühmten „Lingua Tertii Imperii“, dass insbesondere das Wort ‚ewig‘ „zu denjenigen Wörtern des LTI-Lexikons [gehöre], deren besonderer Nazismus nur in der skrupellosen Häufigkeit ihrer Anwendung liegt: allzu vieles in der LTI ist ›historisch‹, ist ‚einmalig‘, ist ‚ewig‘“ (Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1996, S. 141). Dieser inflationäre Gebrauch reiht die Begriffe in den Komplex der ‚Modewörter‘ der NS-Zeit ein (Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin ²2007, S. 220).

[3] Deutsche Identität verteidigen – Kulturpolitik grundsätzlich neu ausrichten, Antrag der AfD-Fraktion im Bundestag, URL: https://dserver.bundestag.de/btd/20/052/2005226.pdf [11.11.2025].

[4] Christian Lüth: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“, in: Die Zeit, 28. September 2020, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/christian-lueth-afd-alexander-gauland-menschenfeindlichkeit-migration (14.11.2025).


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