Die „Jüdische Kriegserklärung“
Eine der ältesten Varianten dieses Mythos hat ihren Ursprung im Jahr 1933 und wurde bereits damals vom NS-Regime zur antisemitischen Hetze genutzt. Es ist die Legende, das Judentum habe Deutschland 1933 den Krieg erklärt.1 Als vermeintlicher Beweis gilt ein Artikel des britischen Daily Express vom 24. März 1933 mit der Überschrift „Judea declares War on Germany“. Im Text war zwar von einer Kriegserklärung gar nicht die Rede, wohl aber von Forderungen nach einem Boykott NS-Deutschlands – was von den Nationalsozialist:innen propagandistisch als Begründung für den antisemitischen Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 genutzt wurde.
Der zweite „Beweis“ für die jüdische Kriegserklärung ist der offene Brief von Chaim Weizmann, dem damaligen Vorsitzenden der zionistischen Weltorganisation, den er am 29. August 1939 an den britischen Premierminister Neville Chamberlain schrieb. In diesem Brief, der wenige Tage später im Jewish Telegraph abgedruckt wurde, drückte Weizmann seine Unterstützung für Großbritannien im bevorstehenden Konflikt mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich aus und bot die Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinschaften weltweit an. Wörtlich schrieb er: „[…] the Jews stand by Great Britain and will fight on the side of the democracies.” Der Brief war ein Ausdruck der Solidarität mit den Alliierten und ein Versuch, die Idee der Notwendigkeit eines jüdischen Staates zu aktualisieren. Weizmann hatte Kontakte zur britischen Regierung, die seit der Balfour-Deklaration von 1917 Unterstützung für ein jüdisches Heim in Palästina signalisiert hatte, aber aufgrund des Widerstands der arabischen Bevölkerung zögerte, diese Pläne vollständig umzusetzen. In der NS-Propaganda galt Weizmann als Repräsentant „Des Weltjudentums“, obwohl er als Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation gerade einmal sechs Prozent der jüdischen Weltbevölkerung repräsentierte.2 Weizmanns Brief ist vor dem Hintergrund der eskalierenden antisemitischen Innenpolitik und der immer aggressiver werdenden Außenpolitik des „Dritten Reichs“ zu sehen. Zwei Tage nachdem der Brief bei Chamberlain einging, überfiel die deutsche Wehrmacht Polen.

NS-Propaganda: Der Holocaust als Notwehr?
Auch in den Folgejahren nutzte die NS-Propaganda gefälschte oder aus dem Kontext gerissene Pressemeldungen über angebliche jüdische Vernichtungsphantasien gegenüber Deutschland. Sie alle haben Einzug gefunden in das auch heute noch von Rechtsextremen verbreitete Konstrukt der angeblichen jüdischen Kriegserklärung. Ähnlich nutzten die Nationalsozialist:innen und nutzen ihre geistigen Erben das Buch „Germany must perish“ des amerikanischen „Wirrkopfs“ (Wolfgang Benz) Theodore N. Kaufman von 1941, der forderte, alle Deutschen sollten sterilisiert werden. Das Buch, von der rechtsextremen Publizistik auch als „Kaufman-Plan“ bezeichnet, wurde in den USA von niemandem ernstgenommen und auch kaum rezipiert. Die wenigen Besprechungen in größeren Zeitungen waren allesamt negativ. Trotzdem nutzte die NS-Propaganda das Buch mit großem Aufwand, um einen angeblichen jüdischen Vernichtungsplan gegenüber den Deutschen zu beweisen. Auch heute noch kursiert in geschichtsrevisionistischen Kreisen eine 1977 in einem rechtsextremen Verlag publizierte deutsche Übersetzung.3
Verwandt mit dem Mythos von den angeblichen jüdischen Vernichtungsplänen in Bezug auf die Deutschen ist die Legende vom Morgenthau-Plan.4 Tatsächlich hatte US-Finanzminister Henry Morgenthau im August 1944 eine Umwandlung des besiegten Deutschlands in einen Agrarstaat vorgeschlagen, er hatte sich damit aber weder in der amerikanischen noch in der britischen Regierung durchsetzen können. Der Plan verschwand deshalb sofort wieder in der Versenkung, wurde aber, obwohl längst verworfen, aufgrund einer Indiskretion veröffentlicht – eine Steilvorlage für Propagandaminister Joseph Goebbels, der von „Judas Mordplan“ sprach und behauptete, die Amerikan:innen bzw. die Jüd:innen wollten den Deutschen jegliche Lebensgrundlage nehmen. Eine Legende, die auch heute noch von Rechtsextremen verbreitet wird, zuletzt etwa in einem Telegram-Post des Weimarers Michael Scholz, der den Kanal „Der Thüringer“ betreibt, der zur Szene der Weimarer „Montagsspaziergänger:innen“ gehört.5

„Alliierte Kriegsschuld“ und Täter-Opfer-Umkehr
Der Legende von der jüdischen Kriegsschuld sehr ähnlich ist die Behauptung, Deutschland sei der Krieg 1939 von Großbritannien oder auch Polen aufgezwungen worden, eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.6 Auch diese Legende geht auf die NS-Propaganda zurück. Als unmittelbare Rechtfertigung für den Angriff auf Polen hatten die Nationalsozialisten bekanntlich einen Scheinangriff auf den Sender Gleiwitz inszeniert.7 Zuvor schon hatte die Goebbels-Propaganda gefordert, die deutsche Minderheit in Polen müsse gegen polnische Übergriffe verteidigt werden. In eine ähnliche Richtung gingen propagandistisch aufgebauschte Opferzahlen in den Berichten über den „Bromberger Blutsonntag“.8 Später verlegte sich die NS-Propaganda stärker auf das Narrativ, die Schuldigen für den Krieg säßen in London. So schrieb etwa der parteiamtliche Südharzer Kurier aus Nordhausen im Herbst 1943 unter der Überschrift „England und die Juden sind schuld am Krieg“, „daß England die Schuld für diesen zweiten Weltkrieg trifft“, indem es „die polnische Frage und Danzig als Handhabe benutzt“ habe, den Krieg zu beginnen.9

Der Mythos vom Präventivkrieg
Eine Variante der Kriegsschuldzuschreibungen ist die Behauptung, der Überfall auf die Sowjetunion 1941 sei ein Präventivangriff gewesen, eine Parole, die die Nationalsozialisten bereits 1941 ausgaben und die von den angeklagten Generälen in den Nürnberger Prozessen inflationär vorgetragen wurde. Im erwähnten Artikel des Südharzer Kuriers hieß es etwa, „daß auch das jüdisch-bolschewistische Sowjetrußland auf dem Wege war, über Deutschland und die europäischen Völker herzufallen, wenn ihm nicht der Führer zuvorgekommen wäre.“10 Nach 1945 wurde dieses Narrativ immer wieder von revisionistischen Autoren bedient. Einem größeren Publikum wurde es allerdings erst im Historikerstreit 1987 bekannt, nachdem Ernst Nolte es mit seiner Präventivkriegsthese gewissermaßen akademisch geadelt hatte – eine Steilvorlage für rechtsextreme Propaganda.11
Kriegsschuldmythen in der revisionistischen Szene
Die Großbritannien und Polen die Kriegsschuld zuschreibenden NS-Legenden wiederum nahm nach dem Krieg der Amerikaner David L. Hoggan auf, dessen Machwerk „Der erzwungene Krieg“ 1961 in Herbert Graberts rechtsextremen Verlag der Deutschen Hochschullehrer-Zeitung erschien und seither vielfach neu aufgelegt wurde.12 Hoggan, dessen Buch ein Klassiker der geschichtsrevisionistischen Literatur ist, behauptete, den Nationalsozialisten sei der Krieg vor allem von den Briten und den Polen aufgezwungen worden, zudem seien die Jüd:innen in Polen weitaus schlimmer behandelt worden als in Deutschland. Als Hauptschuldigen für den Zweiten Weltkrieg identifizierte Hoggan den britischen Außenminister Edward Halifax.

Hoggans Thesen wurden später von etlichen rechtsextremen Autor:innen übernommen, etwa von David Irving, der zunächst mit vollkommen überhöhten Opferzahlen über den britischen Luftangriff auf Dresden publiziert hatte und die Kriegsschuld später ebenfalls an erster Stelle den Briten zuwies.13 Oftmals agieren Geschichtsrevisionist:innen hierbei mit gefälschten Zitaten, die dem britischen Premier Churchill zugeschrieben werden und eine Vernichtungsabsicht gegenüber Deutschland belegen sollen.14 Nichts davon ist wahr, wie überhaupt kein Zweifel daran besteht, dass allein das nationalsozialistische Deutschland mit seinem zunächst den Versailler Friedensvertrag revidierenden und dann offen expansionistischen Kurs für den Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich ist, der mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann und spätestens mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 den Charakter eines Raub- und Vernichtungskrieges annahm.15
[Autoren: Jens-Christian Wagner & Jakob Schergaut]
Literaturverzeichnis
[1] Wolfgang Benz: Die „jüdische Kriegserklärung“ an Deutschland. Judenvernichtung aus Notwehr? In: Wolfgang Benz/Peter Reif-Spirek (Hrsg.): Geschichtsmythen. Legenden über den Nationalsozialismus, 2. Aufl., Berlin 2005, hier S. 11.
[2] Ebd.
[3] Vgl. ebd., S. 25.
[4] Vgl. Wolfgang Benz, Morgenthau-Plan, in: Ders. (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, München 1992, S. 154 f.
[5] So verbreitete der Telegram-Kanal der rechtsextremen und der AfD nahestehenden Weimarer „Montagsspaziergänger“ am 6.10.2024 folgenden Post: „Die Zukunft Deutschlands wird wahrscheinlich für den Rest des Jahrhunderts von Außenstehenden entschieden…wenn wir uns nicht langsam erheben…Das einzige Volk, dass dies nicht weiß, sind die Deutschen. - Hooton-Plan - Kaufman-Plan - Morgenthau-Plan“ (https://t.me/der_thueringer/19095, 6.10.2024). Der Amerikaner Ernest Hooton hatte 1943 in einem Aufsatz dafür plädiert, nach dem Krieg Nicht-Deutsche in Deutschland anzusiedeln, um den deutschen Nationalismus zu zerstören. Seine Ideen waren damals von niemandem aufgegriffen worden, gelten heute jedoch den Anhängern der Verschwörungsideologie vom „Großen Austausch“ als angeblicher Beweis.
[6] Vgl. dazu auch im folgenden Peter Widmann, Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges und die rechtsextreme Propaganda, in: Benz/Reif-Spirek, Geschichtsmythen, S. 43-63.
[7] Vgl. Jürgen Runzheimer, Überfall auf den Sender Gleiwitz, in: Benz, Legenden, S. 190 f.
[8] Vgl. ders., Bromberger Blutsonntag, in: ebd., S. 47 ff.
[9] Ellricher Zeitung, 2. November 1943 (Danke für den Quellenhinweis an Nancy Lüdecke, Ellrich).
[10] Ebd.
[11] Vgl. Richard J. Evans, Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1991.
[12] David L. Hoggan, Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkrieges, Tübingen 1961.
[13] Vgl. David Irving, Wie die Weltkriege begannen. Nachwort zu Paul Rassinier, Die Jahrhundertprovokation. Wie Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben wurde, Tübingen 1989, S. 345-350.
[14] Vgl. dpa-Faktencheck: Das Zitat ist eine Fälschung – Churchill hat das nie gesagt, 17.1.2020 (https://www.presseportal.de/pm/133833/4495353, abgerufen am 8.10.2024).
[15] Vgl. prägnant zusammenfassend Hermann Graml, Zweiter Weltkrieg (Ursachen), in: Benz, Legenden, S. 223-238.