Die Sitzung im Landtag
Am 14. November 2024 debattierte der Thüringer Landtag über den Antrag der Fraktion „Die Linke“, den 8. Mai 2025 als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zum Feiertag zu erklären. Für die AfD nahm deren Abgeordneter Sascha Schlösser dazu Stellung1: Schlösser, Rechtsanwalt aus Erfurt und Landtagsabgeordneter seit 2024, zeigte in seiner Rede klassischen Geschichtsrevisionismus. Zwar betont er die Komplexität des 8. Mai 1945, eines Tages, der deutsche Kriegsniederlage und Befreiung vom Nationalsozialismus zugleich war. In seinen Ausführungen ist von Komplexität aber keine Spur. Die Verbrechen des Nationalsozialismus, das Leid der Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora – sie erwähnt Schlösser mit keinem Wort. Er spricht ausschließlich von deutschen Opfern, spricht über Flucht und Vertreibung und über die Vergewaltigung deutscher Frauen durch alliierte Soldaten. Der AfD-Abgeordnete nutzt für seine Argumentation die typische „Verzahnungs“-Strategie des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek2: Der Tabubruch wird relativiert durch Verweis auf ähnliche Äußerungen demokratischer Politiker. Bei Schlösser müssen die ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker dafür herhalten: Aus deren Reden aus den 1950er-Jahren und von 1985 reißt er Passagen aus dem Kontext, in denen die beiden Politiker auf deutsches Leid verweisen.
Zeichnet sich Schlössers Rede insgesamt durch klassische geschichtsrevisionistische Schuldumkehr aus, indem er die Alliierten als die eigentlichen Kriegsverbrecher hinstellt, wird diese Schuldumkehr am Ende der Rede des Landtagsabgeordneten besonders drastisch: Mit Bezug auf den von Vorrednern angesprochenen 11. April 1945, dem Tag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, sagt er: „Gehen sie nach Gispersleben. Da ist eine kleine Grabplatte. Da wurden am 11. April durch amerikanische Soldaten 50 blutjunge Soldaten erschossen.“
Gispersleben 1945
Das ist eine Falschdarstellung. Tatsächlich lieferten sich in Gispersleben, einer Ortschaft am Nordrand von Erfurt, deutsche und amerikanische Soldaten am 10. und 11. April 1945 schwere Straßenkämpfe. Die deutschen Kräfte setzten sich mehrheitlich aus Soldaten der Waffen-SS, zudem regulären Wehrmachtssoldaten sowie Angehörigen des Volkssturms zusammen und standen unter dem Kommando eines SS-Obersturmführers.3 Am Morgen des 11. April 1945 führten sie einen Gegenangriff aus; dabei erschossen sie an mindestens zwei Stellen Amerikaner, die sich bereits ergeben hatten. Ein eindeutiges Kriegsverbrechen, das andere US-Soldaten beobachteten. Als Reaktion beschlossen sie, keine Gefangenen der SS mehr zu machen. An der Flussaue der Gera erschossen sie etwa ein Dutzend Angehörige der SS, die sich zuvor am westlichen Ortsrand von Gispersleben im Umspannwerk bzw. in der Parkschänke verschanzt hatten und gefangen genommen worden waren.4 Der US-Soldat Andrew Z. Adkins schreibt in seinen Erinnerungen:
"[Die SS] hat ihre Gefangenen nicht einmal befragt. Stattdessen schossen sie jedem von ihnen eine Kugel in den Kopf. Ich sah ihre Leichen und was von ihren Köpfen übrig war. [...] Wir hatten nicht viele SS-Gefangene gemacht, aber wir beschlossen, dass von nun an keine SS-Soldaten mehr lebend gefangen genommen werden würden."5
Auch diese Erschießung verstieß gegen das Kriegsrecht. Bei der Einordnung der Reaktion der US-amerikanischen Soldaten ist zu berücksichtigen, dass Einheiten der US-Armee erst wenige Tage zuvor das KZ-Außenlager Ohrdruf, gelegen rund 25 km südwestlich von Erfurt, befreit hatten. Dort waren sie erstmals unmittelbar mit Massengräbern und unzähligen Häftlingen, die die SS vor ihrem Abzug erschossen hatte, konfrontiert worden – ein weiterer Anlass für die amerikanischen Soldaten, der SS mit besonderer Härte zu begegnen.
Geschichtsklitterung und Schuldumkehr
Sascha Schlössers Behauptung, amerikanische Soldaten hätten am 11. April 1945 „50 blutjunge deutsche Soldaten“ erschossen, ist eine besonders drastische Form der Geschichtsklitterung. Auf der Gedenktafel im Kilianipark, die 1994 auf Initiative von Angehörigen des SS-Hauptsturmführers Walter Freiherr von Maydell gestiftet wurde,6 sind insgesamt 38 Personen namentlich und sieben nicht namentlich erwähnt. Die Historikerin Anja Buresch beziffert die Zahl der deutschen Verluste am 10. und 11. April 1945 von SS, Wehrmacht und Volkssturm auf „mindestens 45“.7 Schlösser nennt die scheinbar aufgerundete Zahl von 50 und vermischt die im Gefecht Gefallenen mit den Erschossenen. Alle Deutschen sind in dieser Logik Opfer alliierter Willkür. Dass viele der in Gispersleben gefallenen deutschen Soldaten "blutjung" waren, spricht nicht gegen die Alliierten, sondern gegen das NS-Regime, das junge Menschen bis zuletzt im Namen eines längst verlorenen „Endsiegs“ an die Front zwang. Einige Städte in Thüringen wurden kampflos übergeben, sinnloses Blutvergießen hätte auch in Gispersleben vermieden werden können.
Dass Schlösser versucht, die Opfer der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora gegen die getöteten deutschen Soldaten und SS-Angehörigen in Gispersleben auszuspielen, ist eine besonders perfide Variante der Schuldumkehr. Schlösser zeigt, was unter der von seinem Parteichef Björn Höcke geforderten „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ zu verstehen ist: Statt der Opfer der Konzentrationslager soll Angehörigen der verbrecherischen SS gedacht werden.
[1] Sascha Schlösser: 3. Plenarsitzung. Thüringer Landtag, dort datiert 14.11.2024, URL: https://live.thltcloud.de/Veranstaltung/Plenarsitzung_2024_2-3/20241114 (20.11.2024). Ab 7:58:30.
[2] Vgl. Götz Kubitschek: Selbstverharmlosung. In: Sezession 76 (2017), S. 26–28.
[3] Jürgen Möller beschreibt die Zusammensetzung der „Gemischten Kampfgruppe“ unter dem Kommando von SS-Obersturmbannführer Kauer am Morgen des 11. April 1945 als zu 80 Prozent bestehend aus Mitgliedern des Alarm Bataillons des SS-Kraftfahrausbildungs- und Ersatzregiments Bad Tennstedt und 20 Prozent Wehrmacht. Vgl. Jürgen Möller: Panzerkeile auf der Thüringer Autobahn April 1945. Bad Langensalza 2017, S. 111.
[4] Das LKA Thüringen führte nach einer Anzeige durch eine:n Einwoher:in von Gispersleben 1996 Ermittlungen wegen des Verdachts des Mordes an Kriegsgefangenen durch. Im Zuge dieser Ermittlungen wurden mehrere Anwohner:innen befragt, die im April 1945 in Gispersleben zugegen waren. Die Berichte der Zeug:innen stimmen darin überein, dass amerikanische GIs deutsche Soldaten, die ihre Hände über dem Kopf hielten, zur Gera führten und dort mit Maschinengewehren erschossen. Die Berichte über die Anzahl der gefangen genommenen und erschossenen Deutschen variieren allerdings zwischen 10 bis hin zu 20. Die am häufigsten genannte Anzahl deutscher Soldaten ist 12. Vgl. Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar. Landeskriminalamt Thüringen Nr. 658, Bl. 80-83.
[5] Andrew Z. Adkins/A.Z. Adkins Junior: You can’t get much closer than this. Philadelphia & Oxford 2005, S. 195. Auch Sergeant Percy Smith von der G-Company berichtet in einem Brief vom 16. April 1945 an seine Frau von Hinrichtungen durch die SS: „The other day, a section of my Company hat to surrender to the S.S. troops, and they shot them all through the head- one of the men saw it and played dead until we could get some help up and push them back.” Vgl. Robert M. Smith: Mother Of The Company. Sgt. Percy M. Smith’s World War II Reflections. Austin 2022, S. 110.
[6] Vgl. H.P. Brachmanski: Ereignisse und Erinnerungen. Erfurt in den letzten Kriegswochen 1944/1945. Erfurt 1995. Hier zitiert nach: Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar, Landeskriminalamt Thüringen Nr. 658 Bl. 31-39
[7] Anja Buresch: Kampf um Erfurt. Erfurt 2016, S. 67.