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Tino Chrupalla relativiert SS bei Markus Lanz

In der Talkshow „Markus Lanz“ vom 04. September 2024 war neben anderen Gästen auch der Co-Chef der AfD, Tino Chrupalla, zu Gast. Der Malermeister aus Sachsen wurde von Moderator Markus Lanz mit Maximilian Krahs Verharmlosung der SS konfrontiert. Chrupalla versuchte seinen Parteikollegen daraufhin mit relativistischen Aussagen zu verteidigen: Die SS sei zwar eine verbrecherische Organisation, dass damit automatisch alle Mitglieder Verbrecher gewesen seien, bezweifle er jedoch. Da weder Moderator noch Gäste ihm kompetent widersprechen konnten, fühlte sich Chrupalla offenbar so sicher, dass er die rhetorische Frage aufwarf, ob überhaupt alle NSDAP-Mitglieder als „Nazis“ bewerten werden könnten.

Tino Chrupalla in der Sendung vom 04. September 2024 mit Markus Lanz.
Tino Chrupalla in der Sendung vom 04. September 2024 mit Markus Lanz. ©Screenshot, https://www.youtube.com/watch?v=OMaG0tn9flk, aufgerufen am 06.09.2024

Vorgeschichte

Der EU-Parlamentarier der AfD, Maximilian Krah, stellte im Mai 2024 in der italienischen Zeitung La Republicca die Behauptung in den Raum, nicht alle Männer in SS-Uniformen seien Verbrecher gewesen. Der so öffentlich produzierte Eklat führte unter anderem dazu, dass Krah im Wahlkampf um das Europaparlament nicht mehr öffentlich auftreten durfte: Die Parteispitze versuchte weiteren Schaden zu verhindern. Die rechte ID-Fraktion (Identität und Demokratie) im EU-Parlament erwirkte daraufhin einen Ausschluss der AfD aus der Parteienfamilie samt ihrer Mitglieder. Insbesondere der französische Rassemblement National unter Marine Le Pen nahm Krahs Äußerung übel, was angesichts des Terrors, den die SS zwischen 1940 und 1945 in Frankreich ausübte, kaum verwundern kann.

Maximilian Krah bei einer Wahlkampfveranstaltung 2023 in Nordhausen.
Maximilian Krah bei einer Wahlkampfveranstaltung 2023 in Nordhausen. ©Wikimedia Commons, aufgerufen am 06.09.2024

Die Sendung vom 04. September 2024

Markus Lanz versuchte diesen politischen Eklat in der Sendung vom 04. September 2024 noch einmal zu aktualisieren und sprach Tino Chrupalla auf die Entgleisung seines Parteikollegen an. Der AfD Co-Chef entgegnete Lanz, dass die SS zwar „eine verbrecherische Organisation“ gewesen sei, wie dies auch in den Nürnberger Prozessen festgestellt wurde, damit aber nicht automatisch jedes der Mitglieder selbst Verbrechen begangen habe. Chrupalla bezog dies insbesondere auf die Jugendlichen, die zum Kriegsende für die SS rekrutiert wurden. Das wiederrum bezeugt aber vor allem die instrumentalisierende, menschenverachtende Indoktrination der Jugend im NS-Staat und dessen totale Kriegsführung und sollte keinesfalls ein Argument zur Verharmlosung der SS sein.

Chrupallas Aussage zielte auf die Trennung des Charakters der Organisation von ihren konkreten Verbrechen ab. Tatsächlich erwies es sich auch für die Nürnberger Ankläger aufgrund mangelnder Beweise zum Teil als schwierig, Nationalsozialist:innen ihrer konkreten Verbrechen zu überführen: Zeugen waren ermordet, Akten vernichtet und Beweise verloren. Die Ankläger in den Nürnberger Prozessen behalfen sich mit der Taktik, die ganze SS als verbrecherische Organisation zu bewerten, bestraften in aller erster Linie aber vor allem ranghohe Mitglieder. Das Gericht übernahm in seinem Urteil diese Ansicht: Die SS wurde neben dem SD, der SA, der Gestapo, der Reichsregierung sowie der NSDAP-Führungsriege als verbrecherische Organisation bewertet. Diese Vorgehensweise war notwendig, um die feingliedrige Arbeitsteilung der systematischen Verbrechen, bestehend aus Verhaftung, Deportation, Organisation der Zwangsarbeit bis hin zur Vernichtung und Beraubung der Opfer, justiziabel zu machen. In diese systematischen Verbrechen waren unzählige Institutionen und Einzelpersonen involviert. Der mit den technischen und organisatorischen Mitteln einer modernen Industriegesellschaft durchgeführte Massenmord schaffte ein Netzwerk aus Interdependenzen, Korrespondenzen und kleinteiligen Arbeitsschritten, die für die Ankläger schwer nachzuvollziehen waren, aber eben alle dem Ziel der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik untergeordnet waren. Dies machte es z.T. schwer, individuelle Schuld nachzuweisen, bezeugte aber eben den verbrecherischen Gesamtcharakter der Organisation.

Individuelle Schuld und die Rolle der SS im Nationalsozialismus

Markus Lanz‘ unbeholfener Versuch, Chrupalla auf die individuelle Schuld von SS-Angehörigen festzunageln, zielt insofern ins Leere, als dass es viel mehr darum hätte gehen müssen, die Rolle der SS als Organisation im NS-Staat darzustellen. Die hauptamtlichen SS-Männer, d.h. die kämpfenden Verbände der Waffen-SS, die Mörder der Einsatzgruppen, die KZ-Wachmannschaften und die Schreibtischtäter:innen im Reichssicherheitshauptamt, haben de facto nur einen geringen Anteil der SS ausgemacht. Die allgemeine SS hatte bereits 1935 197.266 Mitglieder, 90 Prozent waren im zivilen Sektor tätig und engagierten sich in ihrer Freizeit für die Organisation.1 Gleichzeitig verstand sich die uniformierte SS als weltanschauliche Kaderschmiede und Elite-Truppe des Nationalsozialismus. Die organisationseigene Zeitung „Das Schwarze Korps“, bis 1944 immerhin eine Gesamtauflage von über 750.000 Exemplaren, strotzte nur vor menschenverachtender Propaganda.2 Jedes der allgemeinen Mitglieder, aber auch der Fördermitglieder, unterstützten die SS ideologisch wie materiell. Im Gegenzug erhielten die Mitglieder und Förderer Wimpel fürs Auto, Anstecknadeln und privilegierten Zugang zu SS-Heimen und konnten sich als Vorreiter:innen der Volksgemeinschaftsideologie sehen. Dies wäre von Lanz oder den anderen Talkgästen hervorzuheben gewesen, insbesondere wenn Chrupalla später ausführt, dass nicht jede:r „NSDAP-Angehörige ein Nazi“ gewesen sei. Das Externalisieren der Verbrechen auf die so marginalisierte SS als Terrortruppe, die gegen den Willen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gehandelt hätte, ist ein geschichtsrevisionistisches Entlastungsnarrativ, welches die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Verbrechen außen vorlässt.3Diese Delegierung der Schuld an einige Verantwortliche in der NSDAP-Führung und Mörder:innen an und hinter der Front verdeckt den totalen Charakter des NS-Staats, dessen verbrecherischer Politik von den „Volksgenossen“ an der Heimatfront mindestens geduldet wurde und die nicht selten auch davon profitierten. Die (Förder-)Mitgliedschaft in SS und NSDAP war nicht verpflichtend, hatte aber eine integrative Wirkung und schaffte ein kollektives Netzwerk, in dem jede:r seinen Beitrag zur verbrecherischen Politik beitrug: Ideologisch, materiell, oder praktisch.

NS-Propaganda im „Zweiten“

Tino Chrupalla ist es in Teilen gelungen, in der Talkrunde den Nationalsozialismus von seinen Verbrechen zu trennen: Moderator Markus Lanz hatte nur noch ein „Ui“ herausgebracht. Chrupalla konnte so ohne kompetente Gegenwehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Ideologie des Nationalsozialismus ein Stück weiter normalisieren. Darauf ist die AfD angewiesen, um durch den historischen Nationalsozialismus belastete Politiken zu enttabuisieren und wieder für die Gegenwart denkbar zu machen. Wenn Chrupalla in Frage stellt, ob die historischen Nationalsozialist:innen „Nazis“ waren, meint er damit tatsächlich auch seine heutigen Anhänger auf der Straße. Auf den als „Sommerfesten“ getarnten Wahlveranstaltungen der AfD in Thüringen, an denen scharenweise organisierte Rechtsextreme teilgenommen haben, wäre in dieser Logik auch kein einziger „Nazi“ zu finden. Die Relativierung der Vergangenheit wird so auch zu einer Brücke in die Gegenwart für die heutige Selbstverharmlosung der Rechtsextremen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wurde mit der Intention gegründet, die staatlich gelenkte Propaganda des „Dritten Reichs" nicht noch einmal zu ermöglichen. Warum Chrupalla die Möglichkeit gegeben wird, seine geschichtsrevisionistischen Ansichten frei zu entfalten, ist schwer nachvollziehbar. 

[1] Bastian Hein: Elite für Volk und Führer? hg. von. Institut für Zeitgeschichte 2012 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 92), S. 153.

[2] Ebd., S. 10.

[3] Ebd., S. 4.


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