Björn Höcke und der Osten
Der Auftritt Höckes war gespickt mit
Wie „in der unseligen DDR“?!
Nach einer guten Viertelstunde reaktivierte Höcke das erste Mal die DDR-Erfahrung seines Auditoriums: In Folge der
Im Verlauf der Rede streute Höcke weitere Begriffe ein, welche die DDR-Erfahrung der Zuhörer:innen wiederbeleben sollten: So seien die Ermittlungen gegen den Kandidaten für das Europa-Parlament, Maximilian Krah, politisch motiviert gewesen. Die Durchsuchung bei Krahs Mitarbeiter Jian G. sei „Zersetzung“ (20:25). Mit der gezielten Verwendung dieses Begriffs versuchte Höcke ein weiteres Mal die Gegenwart mit der Vergangenheit zu deuten. Das Ministerium für Staatssicherheit definierte unter operativer Zersetzung Maßnahmen zur Bekämpfung subversiver Aktivität durch Beeinflussung, Bedrohung und Erpressung von „feindlich negativen Kräften“.2 Diese "feindliche negativen Kräfte" waren für das Regime alle Unangepassten und Oppositionellen, die sich zum Beispiel in der Kirche oder in der alternativen Jugendkultur engagierten. Die "Zersetzung" erfolgte in aller Regel durch inoffizielle Mitarbeiter. Ziel sollte es sein, das Weltbild zu erschüttern bzw. allmählich zu verändern. Gegen Jian G. wurde jedoch nicht wegen seiner politischen Einstellung, sondern wegen „Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall“3 ermittelt. Jian G. steht also unter dringendem Tatverdacht, Straftaten begangen zu haben. Höckes Versuch, die Strafverfolgung der heutigen Bundesrepublik mit der politischen Verfolgung durch das Regime der DDR in eins zu setzen, bagatellisiert das Leid der tatsächlichen Opfer, die unter der Überwachung, Drangsalierung, Bedrohung bis hin zu Inhaftierung durch das Ministerium für Staatssicherheit gelitten haben.
Totalitarismus à la Björn Höcke
Nachdem die DDR-Vergleiche beim Publikum bereits funktioniert hatten konnte sich der AfD-Vorsitzende seiner Sache sicher sein und den bisher angeschlagenen, geschichtsrevisionistischen Ton noch einmal verschärfen. So nannte Höcke das kürzlich in Kraft getretene Verbot des Magazins „Compact“, das in der rechtsextremen Szene angesiedelt war und von Jürgen Elsässer betrieben wurde, eine „totalitären Aktion“ (22:25). Der Begriff des Totalitarismus wurde insbesondere in der Anfangszeit der italienischen, faschistischen Bewegung als Selbstbezeichnung der „Schwarz-Hemden“ verwendet. Totalitarismus bedeutete für Mussolini und seine Mitstreiter die absolute Durchdringung der Gesellschaft. Das Ziel war die Wiederauferstehung des römischen Reichs sowie die Schaffung eines neuen, kämpferischen Menschen. Der
Darüber hinaus fand der Begriff auch in der Erforschung autoritärer Regime durch seine Gegner:innen Gebrauch. So nutzten beispielsweise marxistische Theoretiker den Begriff für ihre Gegner-Analysen in den 1940er Jahren. Eine weitere Wiederbehebung erlebte der Begriff nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der komparativen Diktatur-Forschung.4
Der Begriff des Totalitarismus ist also unzertrennlich mit der (Selbst-)Beschreibung der italienischen Faschisten sowie der Erforschung autoritärer Diktaturen verbunden. Höckes Verwendung des Begriffs im Kontext des Compact-Verbots stellt eine Verharmlosung der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts dar und ist eine Tatsachenverdrehung, wie sie für die AfD exemplarisch ist. Das Compact-Magazin hat sich wiederholt gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gewendet und zentrale Element eines friedlichen Zusammenlebens in Anerkennung der Menschenwürde aller negiert. Sollte das Verbot des Magazins durch das Innenministerium vor Gericht nicht standhalten, kann Compact theoretisch wieder publizieren. Eine solche Möglichkeit, die auf der Basis von Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative beruht, gibt es in einem totalitären System nicht. Nancy Faesers Macht als Innenministerin könnte nicht mal dem Anspruch nach totalitär sein: Sie muss ihrer Koalition, der Opposition, der Judikative, der Gesellschaft und den Medien Rede und Antwort stehen und in der Wahl zur nächsten Legislaturperiode wieder bestehen.
Verwischen der Begrifflichkeiten
Höcke zielt mit der Nutzung von eindeutig konnotierten Begriffen wie „Zersetzung“ oder „totalitär“ auf die Suggestivkraft eben dieser Worte ab: Die Zuhörer:innen sollen das Gefühl bekommen, die Regierung würde mit diktatorischen Methoden vorgehen. Die Kollateralschäden von Höckes Rhetorik sind aber eben all jene, die in der Vergangenheit tatsächlich unter „Totalitarismus“ oder „Zersetzung“ gelitten haben. Mit dem Verwischen des historischen Kontexts verkehrt Höcke die Bedeutung der Begriffe ins Gegenteil: Wenn das von Nancy Faeser geführte Innenministerium „totalitär“ agiert und die Verhaftung eines scheinbar korrumpierbaren Mitarbeiters im EU-Parlament Zersetzung ist, kann sich die AfD um Björn Höcke als vermeintlich demokratische Opposition inszenieren.
1 Björn Höcke: Björn Höcke | Rede zum Wahlkampfstart am 20.07.2024 in Thüringen, dort datiert 20.07.2024, URL: https://www.youtube.com/watch?v=hjTJkZMUFgE (23.07.2024).
2 Siegfried Suckut (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit: Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“. Berlin 2016, S. 422.
3 Bundesanwaltschaft: Festnahme wegen mutmaßlicher geheimdienstlicher Agententätigkeit. Generalbundesanwaltschaft, dort datiert 23.04.2024, URL: https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/Pressemitteilung-vom-23-04-2024.html (23.07.2024).
4 Faschismus – Begriff und Theorien, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 06.05.2016, http://docupedia.de/zg/esposito_faschismus_v1_de_2016 (aufgerufen am 25.07.2024).