Morallose GIs und alliierte Luftpiraten
„Gedanken zum Jahrestag der Luftangriffe“ ist die Überschrift eines geschichtsrevisionistischen Pamphlets, das der im September 2023 gescheiterte AfD-Oberbürgermeister-Kandidat und jetzige Landtagskandidat Jörg Prophet am 2. April 2020 von Jörg Prophet auf der Website der AfD Nordhausen veröffentlichte.1 Darin behauptet der AfD-Funktionär, die amerikanischen Soldaten, die das KZ Mittelbau-Dora am 11. April 1945 befreiten und mehrere Hundert KZ-Häftlinge retteten, hätten dabei „ihr wahres Gesicht“ gezeigt, als „sie sich das holten, was sie scheinbar antrieb: Vorsprung durch Inbesitznahme von Technologien des Tötens, um die eigene Stellung in der Welt zu sichern.“ Diese „Morallosigkeit“ werde nur durch die heutigen Sozialisten übertroffen. Gemeint war damit die Thüringer Landesregierung.
Seine Heimatstadt Nordhausen veröffentlichte 1964, Prophet war da zwei Jahre alt, in einer Broschüre über das KZ Mittelbau-Dora ein Foto von Häftlingsleichen in der Nordhäuser Boelcke-Kaserne mit der Bildunterschrift: „Was die SS nicht mehr vollbrachte, vernichteten die USA-Luftpiraten.2 „Luftpiraten“ – das war ein Begriff, den schon die nationalsozialistische Propaganda mit Bezug auf die westalliierten Luftangriffe verwendet hatte. Hier, im Fall des Fotos aus der Boelcke-Kaserne, bezog sich die Bildunterschrift von 1964 auf einen britischen (nicht amerikanischen) Luftangriff auf Nordhausen Anfang April 1945, bei dem auch ein KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne getroffen worden war. Tatsächlich waren die meisten Häftlinge aber nicht beim Luftangriff getötet worden, sondern an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten gestorben.
Von der Bildunterschrift der DDR-Broschüre von 1964 zu Prophets Behauptung von 2020, die amerikanischen Befreier des KZ Mittelbau-Dora seien „morallos“ gewesen, zieht sich ein direkter roter Faden. Tatsächlich ist Prophets Geschichtsrevisionismus ein diffuses Amalgam aus klassischen westdeutschen rechtsextremen Geschichtsbildern und einer antiwestlichen und antiliberalen Sozialisation in der DDR. Auch die Prägung durch den von der SED propagierten staatsoffiziellen Antifaschismus spielte offensichtlich eine Rolle. Präsentiert wurde der DDR-Bevölkerung ein Geschichtsbild, wonach die NS-Verbrechen von einer Clique von Monopolkapitalisten und NS-Funktionären begangen worden seien, die nach 1945 alle in den Westen gegangen waren. „Die Blutspur führt nach Bonn“, hieß die erste, 1966 eröffnete Dauerausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Ein solches Geschichtsbild wirkte entlastend; eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung für die NS-Verbrechen blieb in der DDR weitgehend aus. Die Schuldigen wurden im Westen verortet, im kapitalistischen „Imperialismus“ und seinem politischen System.
Deutlich wird dieses Geschichtsbild in der durch die SED betriebenen Popularisierung des Schwurs von Buchenwald, den die KZ-Überlebenden am 19. April 1945, nur wenige Tage nach ihrer Befreiung, bei einer Kundgebung auf dem Appellplatz abgegeben hatten: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung“, hatten die Befreiten bekundet. Kommunistische ehemalige Häftlinge änderten die Losung wenige Tage später. Sie hieß nun: „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.“3 Die Wurzeln, das waren nach SED-Lesart der Kapitalismus und sein politisches System. Damit hatte die DDR-Geschichtspolitik eine starke antiwestliche und antiliberale sowie zeitweise auch eine antizionistische (und damit auch tendenziell antisemitische) Aufladung. Da es sich um ein Entlastungsnarrativ handelte, entfaltete es in der Bevölkerung eine recht starke integrative Wirkung, die bis in die heutige Zeit reicht: Mit seiner antiwestlichen und antiliberalen Aufladung ist dieses Narrativ auch für heutige Rechtsextreme, die den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung überwinden wollen, anschlussfähig.
So ist es kein Zufall, dass die Weimarer „Montagsdemonstranten“, die sich aus einem diffusen rechtsextremen Milieu aus Pandemieleugner:innen, „Reichsbürgern“, AfD-Funktionären und Putin-Anhänger:innen zusammensetzen und selbst als „Weimarer Revolution“ bezeichnen, als Logo die „Schwurhand“ von Buchenwald verwenden – die Hand des „Schwörenden“ in der berühmten Figurengruppe von Fritz Cremer, die vor dem 1958 eingeweihten Glockenturm des monumentalen Buchenwald-Mahnmals steht.
Symbiose aus DDR-Geschichtspolitik und Rechtsextremismus
Rechtsextreme postulieren damit, in der von der DDR-Geschichtspolitik verbreiteten Tradition des antifaschistischen Widerstandskampfes zu stehen. Das ist hochgradig widersprüchlich und wirkt auf den ersten Blick bizarr. Innerhalb des ideologischen Gedankengebäudes dieser Szene bekommt es aber Sinn, wenn der liberale Rechtsstaat westlicher Prägung als faschistisch gebrandmarkt wird – wie es die DDR-Propaganda machte und wie es AfD-Funktionär:innen und andere Rechtsextreme machen, wenn sie postulieren, im „Widerstand“ gegen das als faschistisch bezeichnete Berliner „Ampel-Regime“ zu stehen.
Der Begriff des „Faschismus“ wird damit jeglichen Inhalts beraubt und zum bloßen Kampfbegriff – und zugleich werden der tatsächliche Antifaschismus (also der Einsatz gegen rechtsextremes Gedankengut) und die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diskreditiert – von der Instrumentalisierung der NS-Opfer ganz abgesehen.
Die DDR wird von der Mischszene aus AfD, Reichsbürger:innen und Putin-Anhänger:innen überwiegend abgelehnt, auch wenn sie emotionale nostalgische DDR-Bezüge durchaus nutzt. Die Geschichtsbilder der SED sind für sie, da sie antiliberal aufgeladen sind, aber anschlussfähig und bilden zusammen mit klassischen rechtsextremen westdeutschen geschichtsrevisionistischen Mythen ein aggressives ideologisches Gemisch, das den liberalen Rechtsstaat und die Erinnerungskultur zu delegitimieren versucht.
1 Im Herbst 2023 wurde der Post von der Website der AfD Nordhausen gelöscht. Eine Kopie ist aber noch immer hier abrufbar: https://www.nordthueringen.de/_daten/mm_objekte/2023/09/673880_0913_60705274.pdf (30.07.2024).
2 Stadt Nordhausen (Hg.), Geheimwaffen im Kohnstein, Nordhausen 1964, S. 63.
3 Vgl. https://www.buchenwald.de/geschichte/themen/dossiers/schwur-von-buchenwald