„Schuldkult“ als zentraler Begriff der Neuen Rechten
Einer der Vordenker der sogenannten Neuen Rechten, Armin Mohler, äußerte sich schon in den früher 1960er Jahren abfällig über das Erinnern an die Verbrechen der NS-Zeit als „Nationalmasochismus“. In den 1980er-Jahren diffamierte Franz Schönhuber, der spätere Gründer der „Republikaner“, die deutsche Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus als „Schuldkult“. In jüngerer Vergangenheit wurde der Topos des „Schuldkults“ vermehrt auch von Politiker:innen der AfD aufgegriffen. Exemplarisch dafür ist die berüchtigte Rede des ehemaligen Vorsitzenden Alexander Gauland, in der er den Nationalsozialismus als einen „
In der Darstellung der Rechtsextremen schafft die angebliche Fixierung auf den Holocaust ein Klima der Schuld, welches die Deutschen daran hindern würde, ihre Zukunft selbstbestimmt und frei von politischen Tabus zu gestalten. Der „Schuldkult“ hat eine integrative Funktion in der rechten Szene und findet sich bei Neonazis, der AfD bis hin zu Reichsbürger:innen. Er tritt in unterschiedlichen Varianten auf: Entweder als offen antisemitische Verschwörungstheorie, die von „globalen Eliten“ spricht, oder als subtiler formuliertes Narrativ, das beispielsweise die aktuelle Regierung als unwissende Unterstützer eines sogenannten „Schuldkults“ darstellt. Das angebliche Ziel dieser globalen Agenda sei die langsame Vernichtung des deutschen Volkes durch den sogenannten „großen Austausch“: In der Darstellung der Rechtsextremen wird das ethnisch definierte deutsche Volk durch gesteuerte Zuwanderung ersetzt.
Die Corretiv-Recherchen und ihre Brisanz
Eine neuerliche Aktualität erlangte das Thema im Zuge der
Folgt man der zentralen These aus „Regime Change von rechts“, hindert eine angebliche Überrepräsentation des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen in der Erinnerungskultur Deutschlands einen positiven Bezug auf die eigene Nation. Die eigene nationale Zugehörigkeit sei demzufolge diskreditiert; das deutsche Volk würde unter einem „Ethnomasochismus“ leiden, wie der rechtsextreme Influencer in seinem Buch schreibt.2 Der Mitbegründer der österreichischen Identitären führt weiter aus, dass ein “negatives, von Schuldgefühl und Wiedergutmachung geprägtes Nationalgefühl […] zur Negation der nationalen Existenz [führt].“3 Der Schuldkult sorgt in dieser Deutung für die Abschaffung der deutschen Nation und des dazugehörigen, bei der neuen Rechten ethnisch definierten Volkes. Die passende Antwort liefert Sellner auch gleich mit: "Remigration".
Großer Austausch und Remigration
War der "Schuldkult" in der Erzählung von z.B. dem Republikaner-Gründer Franz Schönhuber noch ein Mittel, die deutsche Nation klein zu halten, erfüllt er für die Neue Rechte eine bedeutendere Funktion. In ihrer Erzählung steht der "Schuldkult" im Dienst eines umfassenderen Vorhabens: Dem "großen Austausch". Der Terminus des "großen Austauschs" geht auf das 2011 erschienen Buch "Le grand remplacement" des französischen Autors Renaud Camus zurück. Zentral ist bei Camus die Behauptung, die Regierungen europäischer Länder würden gezielt muslimische und nicht-weiße Migrant:innen ins Land holen, um die weiße Mehrheitsbevölkerung zu ersetzen. Das Narrativ wurde innerhalb weniger Jahre von Rechtsextremen weltweit übernommen und den jeweiligen Bedingungen und vorherrschenden Ideologemen angepasst. So sind für viele die eigentlichen Drahtzieher hinter dem "großen Austausch" nicht die eigene Regierung, sondern geheime Eliten oder mächtige, internationale Organisationen. Die Verschwörungstheorie, die gleichermaßen Antisemitismus und (antimuslimischen) Rassismus vereint, genießt auch im deutschsprachigen Raum unter Rechtsextremen große Popularität. So spricht Höcke beispielsweise in seinem 2018 erschienen Buch vom "Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch.4
Die bevölkerungspolitischen Planspiele von Sellner und Co. ergeben immer das gleiche Bild: (muslimische) Migrant:innen in Deutschland und Österreich bekommen überproportional viele Kinder, die deutsche "Erbmasse" würde damit verschwinden. In der Kausalkette der neuen Rechten erscheint die geplante Remigrationspolitik als eine Art Notwehr gegen die übermächtigen Globalen Eliten, die mit Hilfe des „Schuldkults“ den „großen Austausch“ vorantreiben. Das Retten der „ethnokulturellen Substanz“ wird so zum gleichermaßen heroischen wie notwendigen Akt der Rechtsextremen.
Die Vergangenheit für die Zukunft beseitigen
Während sich Neonazis bis in die frühen 2000er Jahre mit plumper Holocaust-Leugnung aus dem gesellschaftlichen Diskursrahmen herauskatapultierten, versucht die neue Rechte inzwischen, den "metapolitischen" Raum — also den kulturellen und ideologischen Raum — zu besetzen und die Grenzen des Sagbaren schrittweise zu verschieben. Diese Taktik wird von den Akteur:innen offen kommuniziert. Dieser Strategiewechsel von der Leugnung hin zur Delegitimierung der Erinnerungskultur soll den Weg für neue, rechtsextreme Politikfelder ebnen, die mit der Erinnerung an die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten bisher tabuisiert waren. Die Vision, die Sellner und seine Mitstreiter:innen verfolgen, wird dabei unmissverständlich formuliert:
„Wir müssen unsere ethnokulturelle Identität und Substanz bewahren. Dazu brauchen wir eine radikale Wende der Identitäts- und Bevölkerungspolitik, die den Bevölkerungsaustausch aufhält.“5
So „harmlos“ diese Formulierung daher kommen mag und wie sehr sich Sellner in seinen Machwerken vorgeblich von Gewalt als politisches Mittel distanziert, weil sie dem rechten Lager eher schaden als nützen würde,6 muss klar sein: Das, was die Neue Rechte als „Remigration“ bezeichnet, ist ein brutaler und gewaltvoller politischer Akt, der Bürger:innen ihrer zentralen Rechte, ihres Lebensmittelpunkts und ihrer Existenz beraubt. Wie konkret die Pläne zur Vertreibung von Menschen aus Deutschland bei den Rechtsextremen vorangeschritten sind, zeigte nicht zuletzt das Potsdam-Treffen. Ausgewiesen werden sollen „Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und nicht assimilierte Staatsbürger“.7 Die Junge Alternative Thüringen hat den vorgegebenen Ton bereits aufgegriffen und im Zuge des Wahlkampfes ein Browser-Game freigeschaltet, das in 8-Bit-Optik "millionenfache Abschiebung" von Menschen mit offensichtlich dunkler Hautfarbe gamifizierte. Durch viele Abschiebungen konnten im Spiel "Stolz-Kombos" für noch mehr "Wende-Effekt" gesammelt werden.
Die Angriffe auf den „Schuldkult“ sind Teil einer gezielten Strategie: Nach der Logik der neuen Rechten kann das angeblich durch die Erinnerung an den Holocaust unterdrückte, deutsche Volk erst dann „befreit“ werden, wenn es die Gedenkkultur hinter sich lässt. Für die AfD ist es daher essenziell, die Verbrechen des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten zu lassen, um ihre als „Remigration“ beschönigte Politik durchzusetzen. Durch ständige Diskursverschiebungen im „metapolitischen Raum“ versuchen die Akteur:innen ihr politisches Vorhaben vorzubereiten. Obwohl die Geschichte sich nicht einfach wiederholt und die AfD keinen neuen Holocaust plant, muss sie die Verknüpfung von „Schuldkult“ und „großem Austausch“ herstellen, um ihre Vertreibungspolitik als notwendig für das Überleben des deutschen Volkes erscheinen zu lassen.
1 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Sellners Rechtfertigungsnummer. Neues von ganz rechts – April 2024, URL: https://www.doew.at/erkennen/rechtsextremismus/neues-von-ganz-rechts/archiv/april-2024/sellners-rechtfertigungsnummer (12.08.2024).
2 Martin Sellner: Regime Change von rechts. Schnellroda 2023, S. 7. Tatsächlich hat bereits der Vordenker der neuen Rechten, Armin Mohler, in der sogenannten Spiegel-Affäre 1962 den Begriff des „Nationalmasochismus“ eingebracht. Sellner schenkt also alten Wein aus neuen Schläuchen ein.
3 Ebd., S. 20.
4 Björn Höcke: Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Henning, 3. Aufl. Lüdinghausen und Berlin 2019, S. 216.
5 Sellner: Regime Change von rechts, S. 25.
6 Ebd., S. 152–153.
7 Correctiv: Geheimplan gegen Deutschland.