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Plünderungen durch befreite KZ-Häftlinge? Das Beispiel Nordhausen

Zu den wirkungsmächtigsten, geschichtsrevisionistischen lokalen Legenden zählt in vielen Regionen, insbesondere im Umfeld der ehemaligen Konzentrationslager, die Erzählung, nach ihrer Befreiung seien die überlebenden NS-Verfolgten über die wehrlose deutsche Bevölkerung hergefallen und hätten geraubt und geplündert. Welche Funktion haben diese Legenden und wie steht es um deren Wahrheitsgehalt?

Amerikanische GIs schicken Plünderer auf der der Zorgebrücke weg.
Amerikanische GIs schicken Plünderer auf der der Zorgebrücke weg. Die Aufnahme stammt vom 12. April 1945.

Die Legende der Plünderungen im Kontext Mittelbau Dora

Exemplarisch lässt sich das am Beispiel der Stadt Nordhausen verdeutlichen. Hier befand sich von 1943 bis 1945 das KZ Mittelbau-Dora. Dessen Hauptlager mit dem Tarnnamen „Dora“ befand sich unmittelbar am Stadtrand beim Ortsteil Salza. Zusätzlich gab es ein Außenlager des KZ Mittelbau-Dora in der Nordhäuser Boelcke-Kaserne.1 Bis heute hält sich in Nordhausen das Gerücht, die US-Streitkräfte hätten die Stadt Nordhausen nach der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora am 11. April 1945 aus Erschrecken über das dort gesehene Grauen für eine Woche zur Plünderung freigegeben.2 Der ehemaligen NS-Bürgermeister Heinz Sting schrieb darüber 1965 in seinem Buch „Das 1000jährige Nordhausen“: „Es ergossen sich Massen von freigelassenen Häftlingen aus dem KZ-Lager Dora am Kohnstein bei Niedersachswerfen [...] über das, was noch übriggeblieben war. Es kam zu Plün­derungen von Privathäusern und anderen Übergriffen gegen Eigentum und Personen.“3

Differenzierter, aber dennoch das Stereotyp des plündernden Häftlings und zugleich DDR-spezi­fische Deutungsmuster bedienend, schrieb der Nordhäuser Lokalhistoriker Manfred Schröter 1988: „Es muß in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, daß die kommunistischen ehemaligen Häftlinge sich an solchen Plünderungen nicht beteiligten, ja sich solchen Ausschreitungen entgegenstell­ten. Die von der SS bewußt herbeigeführte Vermischung von antifaschistischen (den sogenannten ‚Poli­tischen‘) Häftlingen sowie aus ‚rassischen‘ Gründen Inhaftierten mit Kriminellen in den Konzentra­tionslagern führte nach der Befreiung der Lager zu Aus­schreitungen hauptsächlich der ‚Kriminellen‘ gegenüber der deutschen Bevölkerung.“4Tatsächlich gibt es für die Behauptung, die Stadt Nordhausen sei von den Amerikanern zur Plünderung freigegeben worden, keinerlei Beleg.5 Sicher ist allerdings, dass es in der nach Luftangriffen zerstörten Stadt im April 1945 zu Plünderungen kam. Das belegen amerikanische Dokumentarfilmaufnahmen von Mitte April 1945.6

Darin sind deutsche Einwohner:innen und auch polnische befreite ehemalige Zwangsarbeiter:innen zu sehen, die das Textilkaufhaus Becker (in DDR-Zeiten Kaufhaus Magnet) im Zentrum von Nordhausen plündern, bis amerikanische Soldaten einschreiten und die Plünderer:innen vertreiben (01:49). Nicht in dem Film zu sehen sind hingegen befreite KZ-Häftlinge. Das ist auch kein Wunder, denn die SS hatte das KZ Mittelbau-Dora nahezu komplett geräumt und die Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Norden und Osten geschickt, als sich Anfang April 1945 von Westen her die amerikanischen Streitkräfte genährt hatten. Nur einige Hundert Kranke und Sterbende hatte sie im Lager Dora und in der Boelcke-Kaserne zurückgelassen. Diese waren derart geschwächt, dass sie zum Plündern schlicht nicht in der Lage waren. Es gab also schlichtweg in Nordhausen so gut wie keine befreiten KZ-Häftlinge, die hätten plündern können.

Nachträgliche Kriminalisierung der KZ-Häftlinge

Warum wurden ihnen die Plünderungen im lokalen Narrativ trotzdem zur Last gelegt? Die Antwort ist einfach: Die den Häftlingen zugeschriebenen Plünderungsgeschichten sind Teil eines Kriminalisierungsdiskurses. Seht her, so lautet der Subtext dieser Nachkriegsberichte, an den Plünderungen zeigt sich ja, dass es sich bei den Häftlingen um gefährliche Verbrecher handelte, vor denen die deutsche Bevölkerung geschützt werden musste. Das ist die Botschaft, die unterschwellig mitschwingt und die nachträglich rechtfertigt, was den KZ-Häftlingen vor ihrer Befreiung angetan wurde. Das knüpfte nahtlos an die mediale Präsentation der Häftlinge durch die NS-Propaganda an – etwa durch Berichte über flüchtige KZ-Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora, die Einbruchsdiebstähle und Morde an der Bevölkerung begangen hätten. Darüber konnte man im „Südharzer Kurier“, der parteiamtlichen Lokalzeitung aus Nordhausen, seit Herbst 1943 regelmäßig Berichte lesen.7

Nordhausen ist, was die irreführenden Berichte über Plünderungen durch befreite KZ-Häftlinge anbelangt, kein Einzelfall. Ähnliche Geschichten kursierten und kursieren bis heute im Umfeld fast aller befreiten ehemaligen Konzentrationslager.8 Ein Beispiel ist das KZ-Bergen-Belsen, das im April 1945 Ziel mehrerer Räumungstransporte aus dem KZ Mittelbau-Dora war. Teilweise kam es im Umfeld des befreiten Lagers, vor allem in der Kleinstadt Bergen, im April 1945 tatsächlich zu Plünderungen durch befreite KZ-Häftlinge. Dass diese vielfach aber gar keine andere Wahl hatten, als Lebensmittel zu stehlen, wenn sie überleben wollten, berücksichtigten die Bergener nicht, wenn sie in Befragungen in den späten 1940er Jahren vom April 1945 als der „Banditenzeit“ berichteten und die befreiten Häftlinge als „Schweinehunde“, „KZ-Gesindel“, „KZ-Horden“ oder auch „Polenrotten“ beschimpften.9 Auch aus diesen Formulierungen spricht – zusätzlich zum Rassismus – der Kriminalisierungsdiskurs gegenüber den KZ-Gefangenen, der bewusst oder unbewusst nachträglich rechtfertigt, dass sie von der SS inhaftiert worden waren. Die den befreiten KZ-Häftlingen zugeschriebenen Plünderungslegenden waren Teil einer massiven Geschichtsklitterung, die aus der deutschen Tätergesellschaft eine von Strafangst und Schuldabwehr geprägte Gemeinschaft mit einem ausgeprägten Opferbewusstsein machten. Für die rechtsextreme Umdeutung der NS-Geschichte und ihrer Folgen sind diese Opfernarrative unmittelbar anschlussfähig.

1 Zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora und seiner etwa 40 Außenlager, die sich über den gesamten Harz erstreckten, vgl. Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, aktualisierte Neuauflage, Göttingen 2015.

2 Manfred Schröter, Die Zerstörung Nordhausens und das Kriegsende im Kreis Grafschaft Hohenstein 1945, Nordhausen 1988, S. 49.

3 Heinz Sting, Das 1000jährige Nordhausen und der schöne Südharz. Ein Volksbuch von Heimat und Zeitgeschichte, Hannover 1965, S. 258. Auch Berichte aus Weimar bzw. Buchenwald bedienten sich der Metaphorik der sich über die Stadt „ergießenden“ Lagerinsassen; vgl. Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager, Weimar u.a. 1999, S. 109.

4 Manfred Schröter, Die Zerstörung Nordhausens und das Kriegsende im Kreis Grafschaft Hohenstein 1945, Nordhausen 1988, S. 51.

5 Vgl. Wagner, Produktion, S. 522.

6 Civilians with looted goods in Nordhausen, Germany. HD Stock Footage, https://www.youtube.com/watch?v=F28nj7XnfaY (29.7.2024).

7 Vgl. Wagner, Produktion, S. 506 f. u. 512-522.

8 Vgl. Karola Fings, Umgedeutete Vergangenheit. Erinnerungsdiskurse über Konzentrationslager, in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 417-432, hier S. 424 f.

9 Zitate aus der Sammlung von Augenzeugenberichten von Anna Fueß, 1947-1949, zit. nach Steffen Meyer, Ein Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager in seinem Umfeld: Bergen-Belsen von „außen“ und von „innen“ 1941-1950, Stuttgart 2003, S. 81 f.


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