FAQ Kontakt Impressum Datenschutz Spenden

Wie AfD-Historiker den deutschen Überfall auf Polen umdeuten

Mythen und bewusste Falschdarstellungen über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs bilden einen zentralen Bestandteil geschichtsrevisionistischer Argumentationen. Besonders verbreitet ist die Behauptung, der deutsche Überfall auf Polen sei in Wahrheit ein von Polen provozierter Krieg gewesen. Solche Verzerrungen treten in jüngster Zeit in neuer Form wieder hervor und entwickeln sich innerhalb der europäischen Rechtsaußenparteien zu politischem Zündstoff.

Wiener Ausgabe der Parteizeitung "Völkischer Beobachter" vom 1. September 1939. Die Propaganda bemühte u.a. den "16 Punkteplan", um das NS-Regime als deeskalierenden Verhandlungspartner darzustellen. Faktisch wurde der Plan der polnischen Seite erst am Abend des 1. September 1939 vorgelegt, nachdem der Überfall in vollem Gange war.
Wiener Ausgabe der Parteizeitung "Völkischer Beobachter" vom 1. September 1939. Die Propaganda bemühte u.a. den "16 Punkteplan", um das NS-Regime als deeskalierenden Verhandlungspartner darzustellen. Faktisch wurde der Plan der polnischen Seite erst am Abend des 1. September 1939 vorgelegt, nachdem der Überfall in vollem Gange war. ©https://alex.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob&datum=19390901&seite=1&zoom=33, aufgerufen am 10.12.2025

Die Konfederacja in Berlin

Die rechtsextremen Parteien Zentraleuropas sind in der Regel darum bemüht, nach außen ein Bild der Geschlossenheit zu vermitteln. Wenn es um die Geschichte des 20. Jahrhunderts geht, stoßen die nationalistischen Verbrüderungsversuche jedoch schnell an ihre Grenzen. Dies zeigt sich insbesondere im deutsch-polnischen Verhältnis. Die jüngste Episode entspann sich auf Social Media: Der Rechtsextremist Benedikt Kaiser kritisierte öffentlich eine Delegation der rechtsextremen Partei Konfederacja, die am 1. August 2025 in Berlin vor dem Brandenburger Tor dem Beginn des Warschauer Aufstands von 1944 gedachte.1 Der Warschauer Aufstand dauerte 61 Tage, richtete sich gegen die deutsche Besatzung und wurde brutal niedergeschlagen. In der polnischen Erinnerungskultur nimmt er bis heute parteiübergreifend eine zentrale Stellung ein. Kaiser kritisierte die Konfederacja-Delegation auf X und entgegnete, dann könne ja auch die AfD in Warschau den deutschen Opfern von Flucht und Vertreibung gedenken – eine Analogie, die auf eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen hinausläuft.

Eine Delegation der rechtsextremen Konfederacja gedachte am 01. August 2025 in Berlin dem Beginn des Warschauer Aufstands vor 81 Jahren. Eine Aktion, die von deutschen Rechtsextremist:innen massiv kritisiert wurde.
Eine Delegation der rechtsextremen Konfederacja gedachte am 01. August 2025 in Berlin dem Beginn des Warschauer Aufstands vor 81 Jahren. Eine Aktion, die von deutschen Rechtsextremist:innen massiv kritisiert wurde. ©Screenshot, https://x.com/benedikt_kaiser/status/1951307176170942624, aufgerufen am 10.12.2025.

Die Minderheitenpolitik als Streitfall

Spätestens seit diesem Post hat sich der Ton deutlich verschärft. Dabei profilieren sich vor allem der brandenburgische Landtagsabgeordnete Dominik Kaufner sowie der AfD-Haushistoriker Stefan Scheil als Kritiker (rechter) polnischer Geschichtspolitik. Anlass zur neuerlichen Eskalation war ein Post des Konfederazjia-Politikers Krzysztof Bosak auf X über die sogenannte Intelligenzaktion:2 Nach dem Überfall auf Polen ermordeten deutsche Einsatzgruppen zwischen September 1939 und April 1940 zehntausende Pol:innen und polnische Juden und Jüdinnen.3 Das Amt II des Sicherheitsdienstes begann, unterstützt von in Polen lebenden Deutschen, mit der Erstellung einer entsprechenden Personenliste („Sonderfahndungsbuch Polen“) bereits im Mai 1939 – vier Monate vor dem Überfall. Kaufner versuchte daraufhin, Bosak zu belehren und vermischte selektiv historische Ereignisse mit verzerrten Darstellungen. So deutete er die repressive polnische Minderheitenpolitik der Zwischenkriegszeit mit den Worten seines Parteikollegen Scheil als die „erste Phase des Völkermords, die Ostdeutschland 1945 vollends vernichten würde.“4 Eine Anklage, die eine moralische Ebenbürtigkeit zwischen Polen und dem NS-Regime herstellen soll, einer Überprüfung allerdings nicht standhält.

Erik Lehnert, Dominik Kaufner und Stefan Scheil (v.l.n.r.) im gemeinsamen Gespräch über Geschichtspolitik bei der Sommerakademie des rechtsextremen Instituts für Staatspolitik im Juli 2025. ©Screenshot, https://www.youtube.com/watch?v=Sgl9gTbEuiw&t=1485s, aufgerufen am 10.12.2025.

Der Versailler Vertrag

Nach dem Ersten Weltkrieg beanspruchten Teile der polnischen Delegation in Versailles die Wiederherstellung der Grenzen von 1772 – vor den Teilungen durch Russland, Preußen und Österreich – sowie das oberschlesische Industrierevier. Die Alliierten kamen dem teilweise nach: Das Deutsche Reich musste große Teile Posens, Kreise aus Ost- und Westpreußen sowie das Reichthaler Ländchen abtreten. Danzig wurde zur freien Stadt unter Völkerbundschutz mit polnischer Kontrolle über Post, Zoll und Eisenbahn. Nachdem es zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen war, veranlassten die Siegermächte ein Gesetz zum Minderheitenschutz – in Polen als „kleiner Versailler Vertrag" bezeichnet.5 In Volksabstimmungen in Allenstein (Ostpreußen) und Marienwerder (Westpreußen) entschied sich die überwältigende Mehrheit für die Zugehörigkeit zu Deutschland. In Oberschlesien versuchten beide Seiten die Volksabstimmung zu beeinflussen, teilweise mit Gewalt. Unter Vermittlung der Siegermächte wurde die Region 1921 schließlich geteilt.6

Die polnische Minderheitenpolitik

Der im „kleinen Versailler Vertrag“ vereinbarte Minderheitenschutz blieb prekär. Allein bis 1925 verließen circa 800.000 Deutsche das Land; 200.000 davon waren ausgewiesene Beamte und Militärangehörige. Die verbliebene deutsche Minderheit sollte polonisiert werden. Neben administrativer Benachteiligung setzte die Regierung vor allem auf die Schließung deutscher Schulen: 1938 konnten nur noch 20 Prozent muttersprachlichen Unterricht besuchen.7 Die polnische Regierung kündigte am 13. September 1934 offiziell den „kleinen Versailler Vertrag“ auf. Am 5. November 1937 einigte sie sich mit dem NS-Regime auf beidseitigen Minderheitenschutz.8 Trotz dessen kam es insbesondere 1939 immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Pol:innen und Deutschen. Zweifelsohne hat die polnische Regierung die freie Entfaltung der deutschen Minderheit unterdrückt. Von einer völkermörderischen Praxis kann jedoch keinesfalls die Rede sein.9

Die deutsche Besatzung Polens

Nach dem deutschen Überfall wurde Polen in die „eingegliederten Ostgebiete“ und das „Generalgouvernement“ geteilt und fortan als Reservoir für günstige Arbeitskräfte ausgebeutet. Die „eingegliederten Ostgebiete“ sollten innerhalb von zehn Jahren „germanisiert“ werden. Die dort lebenden Pol:innen wurden enteignet und entrechtet. Etwa 750.000 wurden in das „Generalgouvernement“ deportiert, zahlreiche weitere zur Zwangsarbeit in den NS-Staat verschleppt. Die Juden und Jüd:innen wurden in das neu geschaffene Ghetto „Litzmannstadt“ (Łódź) deportiert.10 Im „Generalgouvernement“ verboten die Besatzer:innen weiterführende Schulen und „nationale Fächer“, die eine polnische Identität beförderten. Kultureinrichtungen wurden geschlossen, es erschien nur noch eine zensierte Zeitung.11 Bereits im Kaiserreich wurde die polnische Minderheit unterdrückt und "germanisiert", verstärkt durch Bismarcks Kulturkampf gegen die mehrheitlich katholischen Pol:innen. Die Weimarer Republik setzte die Deutschtumspflege verdeckt fort. Unter der nationalsozialistischen Besatzung schlug die Germanisierungspolitik in die völlige Unterdrückung der polnischen Identität, Versklavung und offene Vernichtung gegen die polnische und in verheerenderem Maße gegen die als jüdisch gelesene Bevölkerung um. Gerade vor diesem Hintergrund ist ein angeblicher „Völkermord“ an den Deutschen ein besonders drastischer Versuch der Schuldumkehr.

SS-Truppen führen Pol:innen in einen Wald in der Nähe von Witaniow, wo sie erschossen wurden. Das Foto stammt wahrscheinlich aus dem Oktober oder November 1939.
SS-Truppen führen Pol:innen in einen Wald in der Nähe von Witaniow, wo sie erschossen wurden. Das Foto stammt wahrscheinlich aus dem Oktober oder November 1939. ©https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/photo/ss-troops-lead-a-group-of-poles-into-a-forest-for-execution, aufgerufen am 10.12.2025.

Polen als eigentlicher Aggressor?

Neben der Konstruktion eines angeblichen Völkermords an den Deutschen unterstellt Kaufner Polen imperiale Großmachtphantasien „bis zur Elbe“12 und führt den Militär Henryk Baginski als Kronzeugen an.13 Baginski war von der polnischen „Westforschung“ beeinflusst, die auf deutscher Seite durch die „Ostforschung" gespiegelt wurde. Diese hochpolitisierte Forschung sollte beidseitig territoriale Ansprüche, Minderheitenfragen und kulturelle Einflüsse akademisch legitimieren.14 Auch in den Verhandlungen von Versailles spielte die polnische „Westforschung“ eine Rolle, vertreten durch den Geografen Eugeniusz Romer.15 Kaufner und Scheil nutzen die polnische „Westforschung“, um einen lange gehegten Angriffsplan gegenüber Deutschland zu suggerieren. Tatsächlich war sie jedoch nie Regierungslinie. Baginski war Militär, kein politischer Entscheidungsträger. Für den Staatschef Józef Piłsudski und später Außenminister Józef Beck stand die gleiche Distanz zu Deutschland und der Sowjetunion im Zentrum der außenpolitischen Planung. Teile der polnischen Nationaldemokraten, allen voran Roman Dmowski, waren offen antideutsch eingestellt, orientierten sich nach den Gebietsgewinnen in Folge des Versailler Vertrags aber in Richtung Ost- und Südosteuropa. Polen annektierte Teile der russischen Sowjetrepublik, Mittellitauen sowie im Zuge des Münchener Abkommens im Oktober 1938 das Teschener Schlesien. Von Eroberungsplänen bis „an die Elbe“ kann also – außer unter radikalen Extremisten wie Baginski – kaum eine Rede gewesen sein.

Polnische Präventivkriegspläne?

Revisionist:innen verweisen häufig auf angebliche Gespräche zwischen französischen und polnischen Diplomaten im März, April und Dezember 1933 als Beleg polnischer Aggression.16 Da es sich um kompromittierendes Material gehandelt hätte, existieren keine Aufzeichnungen. Deutung und Authentizität sind unter Historiker:innen umstritten. Boris Čelovský deutete die Gespräche als nachträglich verbreitetes Gerücht,17 Hans Roos hielt sie für wahrscheinlich.18 Revisionist:innen konstruieren daraus jedoch angebliche polnische Vernichtungsfantasien. Falls die Gespräche stattfanden, dürfte es der polnischen Seite vor allem darum gegangen sein, zu sondieren, ob Frankreich im Falle einer deutschen Verletzung des Versailler Vertrags zu einer gemeinsamen begrenzten Intervention bereit wäre. Paris lehnte offenbar ab.19 Polen war in seiner Geschichte dreimal geteilt worden und sah seine Grenzen daher als konstant bedroht: Deutschland verständigte sich 1922 in Rapallo auf eine militärische Zusammenarbeit mit Sowjetrussland und 1925 in Locarno mit Frankreich auf die Einhaltung der Westgrenzen – die östliche Grenze zu Polen wurde explizit außen vorgelassen.20 Aus realpolitischen Erwägungen schloss Polen 1932 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion, 1934 mit Deutschland. Hitler kündigte den Nichtangriffspakt am 28. April 1939. Nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 führten die Bündnisse mit Frankreich und Großbritannien am 3. September 1939 zu Kriegserklärungen beider Staaten an Deutschland, die jedoch für Polen keine nennenswerte militärische Hilfe brachten. Außenminister Beck stand vor dem Scherbenhaufen der prekären Bündnispolitik.

Hans-Adolf von Moltke (Deutscher Gesandter in Polen), Józef Piłsudski, Joseph Goebbels und Józef Beck (v.l.n.r.) im Juni 1934 bei einem Empfang.
Hans-Adolf von Moltke (Deutscher Gesandter in Polen), Józef Piłsudski, Joseph Goebbels und Józef Beck (v.l.n.r.) im Juni 1934 bei einem Empfang. ©https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-B0527-0001-293,_Warschau,_Empfang_Goebbels_bei_Marschall_Pilsudski.jpg, aufgerufen am 10.12.2025

Danzig als Auslöser des Kriegs?

Scheil behauptet, Warschau hätte dem NS-Regime bereits am 10. August 1939 offen mit Krieg gedroht, würde es sich weiter in Danziger Angelegenheiten einmischen.21 Die freie Stadt wurde seit 1933 von der NSDAP regiert; die lokale Parteiführung stimmte ihr Vorgehen eng mit Berlin ab. Danziger Bürger, die ihren Wehrdienst bei der deutschen Wehrmacht geleistet hatten, wurden ab Juni 1939 in die entmilitarisierte Stadt geschleust: Mit geschmuggelten Waffen wurde ein „Landespolizeiregiment“ mit 6.500 Mann aufgestellt, ergänzt durch die SS-Heimwehr. Die polnische Seite befestigte die Poststellen und stockte die Besatzung der vor Danzig gelegenen Halbinsel Westerplatte auf. Regelmäßig kam es nun zu aufgebauschten Grenzzwischenfällen, polnische Eisenbahner oder Postbeamte wurden an ihrer Arbeit gehindert, angeblich wurde sogar ein SA-Mann erschossen.22 Scheil behauptet dennoch, die polnische Drohung sei grundlos erfolgt und stützt sich dabei bezeichnenderweise ohne jede Quellenkritik auf die Darstellung der von der NSDAP regierten Stadt Danzig.23

Die Überbetonung der Rolle Danzigs für den Kriegsausbruch stellt sich bei näherer Betrachtung als Nebelkerze heraus. Hitler selbst hatte bereits am 23. Mai 1939 in der Reichskanzlei erklärt:

„Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. […] Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.“24 

Die Eindeutigkeit dieser Quelle stellt die Revisionist:innen vor ein Problem. Entsprechend bemängelt Scheil die sinngemäße Überlieferung25 und behauptet verklausuliert, „symbolisch“ sei es doch um Danzig gegangen.26 Bereits einen Tag vor der von Scheil und Kaufner bemühten „Kriegsandrohung“ traf Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS, am 9. August 1939 in einer Gestapo-Stelle nahe der deutsch-polnischen Grenze mit den Worten ein: „Der Führer braucht einen Kriegsgrund.“27 

Der Überfall auf Polen als konsensualer Krieg?

Die Darstellung der beiden AfD-Historiker zielt auf eine Angleichung von Angreifer und Verteidiger. Scheil verzerrt den deutschen Überfall gar als „Krieg zweier monatelang mobilisierter Heere, die nach umfangreicher diplomatischer Vorbereitung beider Seiten aufeinandergetroffen sind.“28 Eine Verdrehung der Tatsachen, die den deutschen Überfall als konsensualen Waffengang relativiert. Das NS-Regime lieferte am Vorabend des Krieges eine letzte propagandistische Inszenierung in Form des 16-Punkte-Plans: Eine Liste an Forderungen, die erst im Radio bekannt gegeben wurden, bevor sie 21:15 Uhr an den britischen Botschafter in Berlin übermittelt wurde.29 Zu diesem Zeitpunkt hatte die SS bereits mit der Inszenierung des Überfalls auf den Sender Gleiwitz begonnen. Die polnische Seite erhielt den Plan erst am Abend des 1. September, als Nazi-Deutschland bereits in ihr Land eingefallen war.30

Der angebliche polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz war der NS-Propaganda, obwohl als Kriegsgrund ausgegeben, lediglich eine kurze Meldung auf Seite 2 und 4 des Völkischen Beobachters wert.
Der angebliche polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz war der NS-Propaganda, obwohl als Kriegsgrund ausgegeben, lediglich eine kurze Meldung auf Seite 2 und 4 des Völkischen Beobachters vom 1. September 1939 wert. ©https://alex.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob&datum=19390901&seite=2&zoom=33, aufgerufen am 10.12.2025.

Appeasement Politik

Großbritannien verabschiedete sich nach der deutschen „Zerschlagung der Resttschechei“ im März 1939 von der Appeasement Politik. Trotzdem versuchte Außenminister Neville Chamberlain das NS-Regime noch im Juli 1939 mit ökonomischen Geschenken, Rüstungsabkommen bis hin zur Anerkennung der deutschen Hegemonie über das europäische Festland zu umgarnen – vergebens.31 Die von britischer Seite am 24. Juli 1939 vorgeschlagene „Joint Anglo-German declaration not to use aggression“ wurde von deutscher Seite nicht mehr beantwortet. Stattdessen überschlug sich die NS-Propaganda mit Berichten über polnische Gräueltaten. Der Revisionist Scheil bemüht in diesem Kontext einen Ausspruch des amerikanischen Botschafters in London, Joseph Kennedy: Chamberlain würde sich mehr darum sorgen, „wie man die Polen zur Vernunft bringen kann als um die Haltung der Deutschen.“32 Diese Überlieferung bezeugt vor allem den illusionären Wunsch Chamberlains nach einer friedlichen Beilegung des Konflikts, nicht die unnachgiebige Kriegslust Polens.33 Die Angebote der NS-Führung an Polen, Danzig „heim ins Reich“ zu holen, einer Autobahn- und Eisenbahnverbindung durch den „Korridor“ zuzustimmen und dem Komintern-Pakt beizutreten, war für den polnischen Außenminister Beck inakzeptabel. Polen fürchtete zu einem deutschen Vasallenstaat zu werden, wie zuvor im März 1939 die Slowakei. Beck hielt am Konzept der gleichen Distanz zur UdSSR und dem NS-Regime fest und wollte für keinen der beiden als Bündnispartner in einem antizipierten Krieg, gegen den jeweils anderen zu Verfügung stehen.34

Ausgabe der NS-Propagandazeitung Völkischer Beobachter vom 25. Juli 1939, einen Tag nach dem die deutsche Seite das britische Angebot ausgeschlagen hatte. Der Leitartikel stammt vom Danziger Gauleiter Albert Froster.
Ausgabe der NS-Propagandazeitung Völkischer Beobachter vom 25. Juli 1939, einen Tag nach dem die deutsche Seite das britische Angebot ausgeschlagen hatte. Der Leitartikel stammt vom Danziger Gauleiter Albert Froster. ©https://alex.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob&datum=19390725&seite=1&zoom=33, aufgerufen am 10.12.2025

Die Außenpolitik des NS-Regimes

Schon im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 wurde die Herstellung eines großdeutschen Reichs und die Rückgängigmachung von Versailles gefordert.35 Wenige Tage nach der Machtübernahme informierte Hitler die Heeresleitung über seine Eroberungspläne.36 Laut dem Vierjahresplan von 1936 musste die Wehrmacht innerhalb von vier Jahren einsatzbereit sein.37 In der sogenannten Hoßbach-Niederschrift von 1937 betont Hitler die Absicht, das „Problem des Raumes“ militärisch zu lösen.38 Die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Remilitarisierung des Rheinlands, der „Anschluss“ Österreichs sowie die Annexion der Sudetengebiete stellten klare Brüche des Versailler Vertrags dar – wurden aber im Zuge der Appeasement Politik als zu verschmerzend gedeutet. Spätestens mit der „Zerschlagung der Resttschechei“ im März 1939 übertrat das NS-Regime die Rückgängigmachung von Versailles und unterdrückte ein fremdes Volk. Am 28. April 1939 kündigte Hitler den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt auf, am 23. Mai erklärte er in der Reichskanzlei: „bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.“39 Das Oberkommando des Heeres schloss seine Pläne zum Angriff auf Polen („Fall Weiß“) am 15. Juni 1939 ab. Der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion vom 23. August 1939 samt geheimen Zusatzprotokoll zur Aufteilung Polens besiegelte das Schicksal der Zweiten Republik. Der NS-Außenpolitik ging es nicht um den Korridor oder Danzig, sondern um die „Erweiterung des Lebensraumes im Osten.“40

Geschichtsrevisionistische Kontinuitäten

Die Versuche von Kaufner und Scheil stehen in der Tradition früherer Geschichtsrevisionisten wie David L. Hoggan, Paul Rassinier und David Irving – alle bekennende Leugner des Holocaust. Mit Täter-Opfer-Umkehr, selektiver Quellenwahl bis hin zum Ignorieren und Delegitimieren von Gegenbeweisen versuchen sie, den Nationalsozialismus von seiner Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg freizusprechen und Polen einen angeblichen Völkermord an den Deutschen aufzubürden. Kaufner sieht sich seit seiner Intervention auf X Anfeindungen ausgesetzt und inszeniert sich als Opfer einer ungerechtfertigten Diffamierungskampagne.41 In einem Gastbeitrag in der rechtsextremen Zeitschrift „Sezession“ vom 17. November 2025 stellt er die Frage, ob eine Zusammenarbeit von deutschen und polnischen Patrioten überhaupt noch möglich sei und ob letztere „ohne chauvinistisch-revanchistische Untertöne“ auskommen würden.42 Obwohl sich Kaufner von Gebietsrückforderungen distanziert, klingt der Vorwurf wie Spiegelfechterei: Noch im Mai 2025 bezeichnete er das wiedervereinigte Deutschland – d.h. in den Grenzen von 1990 - in revanchistischer Manier als „Rumpfdeutschland“.43 Ob der entstandene Riss zwischen der extremen Rechten in Berlin und Warschau gekittet werden kann, scheint momentan zweifelhaft. Die Frage der deutschen Kriegsschuld für den Zweiten Weltkrieg ist unterdessen zweifelsfrei geklärt und weder Produkt amerikanischer Umerziehung noch einer angeblichen „Schuldtheologie“, sondern das Ergebnis internationaler Forschung.

 

 

[Autor: Jakob Schergaut]

[1] Slawomir Mentzen: Podczas Powstania Warszawskiego Niemcy zamordowali 200 tysięcy Polaków i doszczętnie zniszczyli Warszawę. X.com, dort datiert 01.08.2025, URL: https://x.com/SlawomirMentzen/status/1951296917918388388 (04.11.2025).

[2] Krzysztof Bosak: Nie wiem czy o tym wiecie. X.com, dort datiert 21.10.2025, URL: https://x.com/krzysztofbosak/status/1980734082834440299 (07.11.2025).

[3] Jan Grabowski: Die polnische Gesellschaft unter deutscher Besatzung. Unterdrückung, Widerstand und selektive Solidarität. In: Dieter Bingen/Simon Lengeman (Hrsg.): Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939 – 1945. Eine Leerstelle deutscher Erinnerung?, Bonn 2019 (Schriftenreihe 10398), hier S. 36.

[4] Dominik Kaufner: Ich weiß nicht, ob Sie sich dessen bewusst sind. X.com, dort datiert 25.10.2025, URL: https://x.com/DKaufner/status/1982008411987329078 (07.11.2025).

[5] Wlodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 107.

[6] Andrea Schmidt-Rösler: Polen: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von. Horst Glassl, Ekkehard Völkl. Regensburg 1996, S. 148–150.

[7] Ebd., S. 178.

[8] Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 169.

[9] Die Regierung verschärfte die Minderheitenpolitik vor allem gegenüber Ukrainer:innen im Südosten, die ab 1930 in offene Gewalt umschlug. Teile der polnischen Nationaldemokraten, allen voran der Antisemit Roman Dmowski, dachten zudem laut über die Aussiedlung der jüdischen Bevölkerung nach.

[10] Schmidt-Rösler: Polen: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 186.

[11] Ebd., S. 188–189.

[12] Redaktion: Nach unbequemen Worten über Polens Vergangenheit: Welle des Hasses gegen AfD-Politiker. Freilich Magazin, dort datiert 30.10.2025, URL: https://www.freilich-magazin.com/politik/nach-unbequemen-worten-ueber-polens-vergangenheit-welle-des-hasses-gegen-afd-politiker (04.11.2025).

[13] Kaufner folgt offenbar den Ausführungen Scheils. Siehe dazu: Stefan Scheil: Polens Zwischenkrieg. Der Weg der Zweiten Republik von Versailles nach Gleiwitz, 2. Aufl. Selent 2022, S. 84.

[14] Rudolf Jaworski: Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung in ihrem historisch-politischen Bezügen. In: Jan M. Piskorski./Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski (Hrsg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Bd. 1, Osnabrück - Poznan 2002, hier S. 12.

[15] Bronislaw Kortus: Der polnische Westgedanke und die Geographie. Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Bd. 1, Osnabrück - Poznan 2002, hier S. 242.

[16] David L. Hoggan: Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs, 9. Aufl. Tübingen 1974, S. 54–56.

[17] Boris Čelovský: Pilsudskis Präventivkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland (Entstehung, Verbreitung und Widerlegung einer Legende). In: Die Welt als Geschichte 14 (1954), S. 53–70.

[18] Hans Roos: Die „Präventivkriegspläne“ Pilsudkis von 1933. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), H. 4, S. 362.

[19] Ebd.

[20] Schmidt-Rösler: Polen: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 162.

[21] Scheil: Polens Zwischenkrieg. Der Weg der Zweiten Republik von Versailles nach Gleiwitz, S. 252.

[22] Peter Oliver Loew: Danzig. Biographie einer Stadt. München 2011, S. 219.

[23] Scheil: Polens Zwischenkrieg. Der Weg der Zweiten Republik von Versailles nach Gleiwitz, S. 255.

[24] Die sogenannten „Schmundt-Aufzeichnung“ ist ein Bericht über eine Besprechung am 23. Mai 1939 durch den Adjutanten G. Schmundt. Zitiert nach: Walther Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Berlin 2007, S. 105–106.

[25] Stefan Scheil: Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, 4. Aufl. Berlin 2009, S. 127.

[26] Ebd., S. 132–133.

[27] Institut für Zeitgeschichte: Vernehmung des Dr. Emanuel Schaefer vom 13.06.1952. Zeugenschrifttum, dort datiert 1952, URL: https://open.ifz-muenchen.de/server/api/core/bitstreams/1482bd85-3059-4f83-a7b9-8f8d96bf9d58/content (04.12.2025).

[28] Stefan Scheil: Revisionismus und Demokratie. Schnellroda, S. 21.

[29] Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, S. 344.

[30] Ebd., S. 347.

[31] Vermerk des Ministerialdirektors z. b. V. Wohlthat im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan vom 24. Juli 1939. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945, Bd. VI, Baden-Baden 1956 (Serie D 1937–1945), S. 826.

[32] Stefan Scheil: 30. August 1939. X.com, dort datiert 05.11.2025, URL: https://x.com/ScheilDr/status/1986094966351843825 (10.12.2025).

[33] Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945. München 2008, S. 696.

[34] Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 187.

[35] Adolf Hitler: Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, dort datiert 20.02.1920, URL: http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html (22.08.2024).

[36] Wolfgang Michalka (Hrsg.): Das Dritte Reich. Volksgemeinschaft und Großmachtpolitik 1933-1939, Bd. 1. München 1985, S. 22.

[37] Ebd., S. 190.

[38] Ebd., S. 234.

[39] Die sogenannten „Schmundt-Aufzeichnung“ ist ein Bericht über eine Besprechung am 23. Mai 1939 durch den Adjutanten G. Schmundt. Zitiert nach: Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, S. 105–106.

[40] Ebd., S. 105.

[41] Redaktion: Nach unbequemen Worten über Polens Vergangenheit: Welle des Hasses gegen AfD-Politiker.

[42] Dominik Kaufner: Polen und die Erinnerungspolitik. Sezession, dort datiert 17.11.2025, URL: https://sezession.de/70461/polen-und-die-erinnerungspolitik (04.12.2025).

[43] Dominik Kaufner: 8. Mai – Zeit für eine Revision. Sezession, dort datiert 08.05.2025, URL: https://sezession.de/70211/8-mai-zeit-fuer-eine-revision (10.07.2025).


var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '25']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();