Der Volkstrauertag im historischen Kontext
Der Volkstrauertag wurde in der Weimarer Republik eingeführt, um den Gefallenen des 1. Weltkriegs zu gedenken. Revanchistische Kreisen nutzten diesen Tag auch zur Agitation gegen die als Schmach empfundene Unterzeichnung des Versailler Vertrags.1 Ab 1934 instrumentalisierten die Nationalsozialist:innen den Volkstrauertag, um eine Heroisierung der Gefallenen zu propagieren. Er wurde in „Heldengedenktag“ umbenannt. Das Hissen der Flaggen wurde symbolträchtig von halbmast auf vollstock geändert, um den kämpferischen Charakter des Gedenkens zu betonen.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die Bundesrepublik an die ursprüngliche Gedenktradition an, verlegte den Tag jedoch in den Herbst. Seit der ersten offiziellen Gedenkstunde 1952 verliest in der Regel der Bundespräsident eine Rede; erstmals tat dies Theodor Heuss, der dabei auch die Opfer anderer Nationen in das Gedenken einbezog.
Der Volkstrauertag in Heilbad Heiligenstadt
Die Veranstaltung am Volkstrauertag in Heilbad Heiligenstadt wird vom AfD-Kreisverband seit mehreren Jahren durchgeführt. Bereits 2024 hatte Höcke übersteigerte Zahlen zu den Opfern von Flucht und Vertreibung genannt – einem Kernmotiv extrem rechter Geschichtspolitik. In diesem Jahr veröffentlichte die AfD Thüringen ein mit Klaviermusik unterlegtes Schwarz-Weiß-Video, das die Reden des Bundestagsabgeordneten Christopher Drößler sowie Björn Höckes dokumentiert. Höcke betonte darin, er wolle „zuvorderst den Opfern des eigenen Volkes gedenken […] ohne die Opfer der anderen Völker zu vergessen“3 – eine Aussage, die angesichts seiner tatsächlichen Ausführungen zweifelhaft erscheint.
Manipulierte Zahlen: Bombenkrieg und zivile Verluste
In seiner Rede nannte Höcke für den Zweiten Weltkrieg 5 Millionen gefallene Wehrmachtsangehörige, 500.000 bis 1 Million Opfer alliierter Bombardierungen sowie etwa 3 Millionen Tote durch Flucht und Vertreibung – eine Zahl, die er später auf 2,8 Millionen abschwächte.4 Ebenso beklagte er die „völkerrechtswidrigen“ deutschen Gebietsverluste seit 1871. Eine verzerrte Darstellung, die jeglichen historischen Kontext verschweigt und auch den „Verlust“ des erst 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg annektierten Elsass-Lothringens als Unrecht darstellt. Frankreich erhielt das annektierte Gebiet nach dem 1. Weltkrieg zurück.
Während die Zahl der militärischen Verluste dem Forschungsstand entspricht,5 sind die Angaben zu den zivilen Opfern stark verzerrt. Richard Overy gab 2014 in seiner wegweisenden Studie zum Bombenkrieg für Deutschland 350.000 Opfer an,6 das Deutsche Historische Museum nennt heute 500.000.7 Höcke gibt als mögliche Höchstzahl jedoch 1 Millionen an. Dabei verschweigt er, dass darunter eben nicht nur explizit „deutsche Opfer“ waren. Besonders verschleppte Zwangsarbeiter:innen sowie in den Städten lebende Juden und Jüdinnen waren durch die Bombardierungen in besonderem Maße gefährdet. Schutzräume waren meist der „Volksgemeinschaft“ vorbehalten; „Gemeinschaftsfremde“ waren ausgeschlossen. Zwangsarbeiter:innen lebten häufig in schlecht gesicherten Baracken in der Nähe großer Industrieanlagen, die bevorzugte Ziele alliierter Angriffe waren. Juden und Jüd:innen wurden ab 1940 aus ihren Wohnungen vertrieben, um dort ausgebombte „Volksgenossen“ einzuquartieren.
Flucht und Vertreibung: Übertreibungen mit politischer Absicht
Auch die genannten Zahlen zu Flucht und Vertreibung sind überzogen. Höcke spricht von 3 beziehungsweise 2,8 Millionen deutschen Opfern – und widerspricht damit sogar den eigenen Angaben aus dem Vorjahr (2,5 Millionen). Ältere Schätzungen, besonders aus Vertriebenenverbänden, nennen teilweise 1 bis 2 Millionen Opfer oder mehr. Dabei sind jedoch auch die „vermeintlichen deutschen Geburtenausfälle, die Staatsangehörigkeitswechsler, ungezählte Wehrmachtstote, die ermordeten deutschen Juden und Vermisste“ mit eingerechnet.8 Die tatsächlichen Verluste beziffert die Forschung aktuell auf 500.000 bis maximal 600.000.9 Höckes Überhöhung verfolgt ein klares Ziel: Das den Deutschen widerfahrene Leid soll in die Nähe der Opferzahlen nationalsozialistischer Verbrechen gerückt werden – eine Strategie, die am Ende auf deren Relativierung hinausläuft. Darauf verweist auch die Bezeichnung des Brünner Vertriebenentrecks als „Todesmarsch“, ein Begriff, der vor allem in der Vertriebenenliteratur verbreitet ist. Am 30. und 31. Mai 1945 trieben Angehörige der tschechoslowakischen Armee und Arbeiter der Brünner Waffenwerke – je nach Quelle – zwischen 20.000 und 27.000 Deutsche aus Brünn in Richtung der österreichischen Grenze. Während dieses gewaltsamen und chaotisch organisierten Trecks starben viele an Erschöpfung, Krankheit oder direkter Gewalt. Die Zahl der Toten ist umstritten; der Historiker Thomas Staněk nennt 649 Opfer auf der tschechoslowakischen und 1.050 auf der österreichischen Seite der Grenze10, die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen geht von insgesamt bis zu 5.200 Toten aus.11 Die Begriffswahl „Todesmarsch“ suggeriert jedoch eine Parallele zu den nationalsozialistischen Todesmärschen, deren Ziel die Vernichtung oder weitere Ausbeutung der aufgrund der NS-Ideologie Verfolgten war. Der Brünner Treck hingegen – bei aller Brutalität – diente der Aussiedlung. Eine Gleichsetzung beider Ereignisse verwischt wesentliche Unterschiede und öffnet der Relativierung der NS-Verbrechen Tür und Tor.
Innerparteilicher Richtungsstreit: „Nie wieder Krieg?“
Höcke nutzte den Volkstrauertag nicht nur für geschichtspolitische Verzerrungen, sondern auch zur Positionierung im parteiinternen Konflikt. Seit den kremlfreundlichen Aussagen seines Parteikollegen Tino Chrupalla („Putin hat mir persönlich nichts getan“) tobt in der AfD ein heftiger Richtungsstreit. Während Abgeordnete wie Rüdiger Lucassen und Alice Weidel eine Westbindung an die USA unter Donald Trump favorisieren, setzen Chrupalla, Höcke und die ostdeutschen Landesverbände auf Friedensrhetorik und russlandfreundliche Positionen. Hintergrund ist ein strategischer Konflikt: Während Lucassen besonders die Wähler:innen im Westen und damit die bundesweiten Ergebnisse im Blick hat, konzentrieren sich Höcke und seine Verbündeten zunächst auf die „Machtübernahme“ in Ostdeutschland.12
„Nie wieder Krieg“ ohne „Nie wieder Faschismus“
In Heiligenstadt sprach sich Höcke vorerst gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht aus und erklärte, „dieser Regierung und diesem Staat geben wir unsere wenigen Söhne nicht.“ Erst müsse dieser Staat „wieder ein Staat der Deutschen“ werden.13 Für die Interessen der Rüstungsindustrie, BlackRock oder für eine vermeintliche NATO-Strategie wolle man keine Opfer bringen – die von Russland angegriffene Ukraine erwähnte er dabei mit keinem Wort. Seine verkürzte, pseudo-historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg lautet schlicht: „Nie wieder Krieg.“ Mit dieser Parole versucht er, eine Querfront vermeintlich „friedensorientierter“ Kräfte zu beschwören – ein Ansatz, der sich bereits im jüngsten öffentlichen Dialog mit dem ehemaligen Linken-Abgeordneten Dietmar Dehm zeigte.14
Auffällig ist, dass Höcke den zweiten Teil der historischen Mahnung – „Nie wieder Faschismus“ – bewusst unterschlägt. Dabei verstellt gerade diese Verkürzung den Blick auf das zentrale Charakteristikum des Nationalsozialismus: Er war nicht nur ein Krieg führendes Regime, sondern ein Vernichtungsprojekt. Kriege – so zerstörerisch sie sind – verfolgen politische und/oder territoriale Ziele. Die nationalsozialistische Mordpolitik hingegen war kein Mittel zum Zweck, sondern ein Zweck an sich: Die systematische, industriell organisierte Ermordung von Jüdinnen und Juden sowie anderer verfolgter Gruppen diente keinem strategischen Vorteil. Sie war ideologisch motivierte Vernichtung um der Vernichtung willen. Höckes Darstellung, die den Krieg zur eigentlichen Lehre des 20. Jahrhunderts erklärt und Täter wie Opfer unausgesprochen lässt, verschleiert diese historische Realität. Der Zweite Weltkrieg war ein von Deutschland ausgehender Angriffs- und Vernichtungskrieg, den die Alliierten bis zum Ende führten – und mit dessen Ende sie die Überlebenden der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager befreiten.
Angriff auf die Erinnerungskultur
Der Auftritt Björn Höckes am Volkstrauertag 2025 zeigt exemplarisch, wie die Thüringer AfD Geschichtspolitik als Instrument einsetzt. Unter dem Deckmantel eines angeblich überparteilichen Gedenkens konstruiert Höcke ein verzerrtes Bild deutscher Geschichte: Die Opferzahlen werden überhöht, historische Zusammenhänge verkürzt oder ausgeblendet, Täter-Opfer-Verhältnisse verdreht. Die Deutschen erscheinen ausschließlich als Opfer – ein zentrales Motiv extrem rechter Geschichtspolitik. Diese historische Opferrolle soll gleichermaßen heutige Politik – „tabu frei“ und ausschließlich an den nationalen Interessen orientiert – legitimieren. Diese historischen Verzerrungen verbindet Höcke gezielt mit Gegenwartsbezügen, insbesondere seiner Forderung nach einem „friedenorientierten“ Kurs und einer Abkehr von westlichen Bündnissen. Seine Rhetorik dient dabei nicht nur der Mobilisierung politischer Unterstützung im AfD-internen Richtungsstreit, sondern auch als Instrument, um geschichtsrevisionistische Botschaften in den gesellschaftlichen Mainstream zu tragen.
[1] Alexandra Kaiser: Von Helden und Opfern: Eine Geschichte des Volkstrauertags. Frankfurt am Main 2010, S. 25.
[2] Ebd., S. 184.
[3] AFD Thüringen: Volkstrauertag. Telegram, dort datiert 16.11.2025, URL: https://t.me/BjoernHoeckeAfD/3170 (17.11.2025).
[4] AFD Thüringen: Volkstrauertag.
[5] Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im zweiten Weltkrieg. München 1999, S. 294.
[6] Richard Overy: Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945. Berlin 2014, S. 587.
[7] Arnulf Scriba: Die Luftangriffe auf Städte. Deutsches Historisches Museum, dort datiert 04.03.2022, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/luftangriffe (17.11.2025).
[8] Ingo Haar: Die deutschen ›Vertreibungsverluste‹ – Forschungsstand, Kontexte und Probleme. In: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke/Josef Ehmer (Hrsg.): Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden 2009, hier S. 378.
[9] Ebd., S. 378.
[10] Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutsche in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien, Köln, Weimar 2002, S. 120.
[11] Steffen P. Teppert: Der Brünner Todesmarsch. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, URL: https://kulturstiftung.org/zeitstrahl/der-bruenner-todesmarsch (17.11.2025).
[12] Annika Leistner: In der AfD fliegen die Fetzen. T-Online, dort datiert 14.11.2025, URL: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100999936/afd-richtungsstreit-es-geht-um-viel-mehr-als-putin.html (17.11.2025).
[13] AFD Thüringen: Volkstrauertag.
[14] Compact TV: DE Höcke/Dehm uncut: Die große Querfront-Debatte. Youtube, dort datiert 25.10.2025, URL: https://www.youtube.com/watch?v=7JC8sKNvr30 (17.11.2025).