
Wer sind die Reichsbürger:innen?
Die Reichsbürger:innen-Szene entstand in den 1980er Jahren und umfasst heute etwa 25.000 Personen.1 Meist männliche Anhänger im Alter von 40 bis 50 Jahren stoßen oft durch persönliche Krisen wie Kündigung oder Insolvenz zur Bewegung.2 Besonders während der Corona-Pandemie erfuhr das Milieu Zulauf. Lockdowns, wirtschaftliche Unsicherheiten und das gefühlte Machtungleichgewicht zwischen Staat und Bürger:innen förderten das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Verschwörungstheorien über eine angebliche "Corona-Diktatur" fanden auf Plattformen wie Telegram oder Facebook eine hohe Resonanz und wurden gezielt von Reichsbürger:innen genutzt, um neue Mitglieder zu gewinnen. Viele der Kanäle entwickelten sich zu geschlossenen Räumen für Radikalisierung, in denen sich Anhänger:innen gegenseitig in ihrer Weltsicht bestärken. Heute verbreiten zahlreiche Accounts Geschichtsfälschung, fingierte Dokumente und Anleitungen zur "Befreiung" aus der Bundesrepublik. Reichsbürger:innen verneinen die Existenz der BRD, der sie mit dem Deutschen Reich einen eigenen, historischen Sehnsuchtsort entgegensetzen. Die Reichsbürger:innen knüpfen dabei an Themen an, welche die Nachkriegsgesellschaft tatsächlich lange Zeit beschäftigt haben. Was ist 1945 mit dem „Reich“ passiert? Welcher der beiden deutschen Staaten sollte die legitime Rechtsnachfolge antreten?
Die Frage der Rechtsnachfolge
Mit dem Ende der NS-Herrschaft verschwand der Begriff des „Reiches“ aus der Öffentlichkeit. Entnazifizierung und alliierte Präsenz verhinderten positive Bezüge. Erste Rehabilitationsversuche gab es 1949 mit der Gründung der „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP), die 1952 verboten wurde. Der Rechtsextremist Manfred Roeder bat 1975 Ex-Großadmiral Karl Dönitz, Hitlers testamentarischen Nachfolger, vergeblich um die „Führer“-Nachfolge. Drei Jahre später ernannte sich Roeder selbst zum „Reichsverweser“.3
Im Zuge der Grundlagenverträge kam 1973 erneut die Frage der Rechtsnachfolge auf. Die DDR lehnte diese Identifikation mit ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat ab. Das Bundesverfassungsgericht erließ 1973 einen viel beachteten Urteilsspruch, der bis heute Bezugspunkt für Reichsbürger:innen ist. Das Gericht erklärte, dass das Reich weiterhin existiere, aufgrund mangelnder Vertretung aber handlungsunfähig sei. Die BRD sei nicht der direkte Rechtsnachfolger, aber als Staat identisch mit dem „Deutschen Reich“ – in Bezug auf die territoriale Ausdehnung allerdings nur teil identisch.4 In der Szene wird gern der erste Teil des Satzes zitiert, während der zweite Teil bewusst verschwiegen wird.
Der erste Reichsbürger
Der Begriff „teilidentisch“ meint dabei das Gebiet der DDR, die unbeabsichtigt eine wichtige Rolle für die Entstehung der Ideologie spielte. Als erster Reichsbürger gilt Wolfgang Ebel, der für DDR-Reichsbahn arbeitete. Diese betrieb aufgrund historisch und rechtlich besonderer Umstände auch das Westberliner S-Bahnnetz.5 Die DDR-Beamten um Ebel wehrten sich 1980 in einem Arbeitskampf gegen angedrohte Kündigungen, und forderten die Integration in die Westberliner Verkehrsbetriebe. Ein Wunsch, der 1984 tatsächlich erfüllt wurde.6 Ebel, der 1980 entlassen wurde, akzeptiere die verspätete Erfüllung nicht und wandte sich 1985 an den amerikanischen Botschafter in Bonn. Von diesem verlangte er die Ernennung zum provisorischen „Reichsverkehrsminister“. Ebel gab sich ab September 1985 als „Generalbevollmächtigter für das Deutsche Reich“ aus. Als vermeintlicher Vertreter der „Kommissarischen Reichsregierung“ (KRR) verkaufte er in den folgenden 30 Jahren fiktionale Ausweisdokumente und gab „rechtliche“ Fortbildungen.7 Damit trug Ebel bis zu seinem Tod 2014 zur Verbreitung von Ideologie und Praxis der Reichsbürger:innen bei.
Vom Dritten Reich zum Kaiserreich
Der Untergang der DDR löste die vorherigen rechtlichen Verwirrungen – inklusive Ebels Bezugspunkt – auf. Das Deutsche Reich, das in der Vorstellung des Urteils von 1973 handlungsunfähig über Deutschland „schwebte“, verschwand über Nacht. Mit dem 2+4-Vertrag wurde die Nachkriegsordnung beendet und der Weg für ein geeintes Deutschland frei gemacht. Während Roeder und Ebel sich noch auf das nationalsozialistische Deutschland bezogen, sehnen sich moderne Reichsbürger:innen nach dem Kaiserreich von 1871, das historische weniger belastet scheint. In organisierten Zusammenhängen, wie z.B. der Gruppe Reuß, finden sich häufig entmachtete Adlige, die sich von der Wiedererrichtung der Monarchie einen Vorteil erhoffen. Dazu kommen Anhänger:innen, die sich zu dieser Macht hingezogen fühlen. Das Kaiserreich selbst scheint mit seiner großflächigen Ausdehnung und den Insignien monarchistischer Macht gerade auf autoritär eingestellte Menschen faszinierend zu wirken. Da sein Untergang durch den Versailler Vertrag als Verrat betrachtet wird, bleibt die Idee des Fortbestehens bis heute ungebrochen. Zahlreiche Anhänger:innen teilen zudem die
Rosinenpickerei im Paragrafenwald
Anhänger:innen beziehen sich häufig auf das Reichs- und Staatsbürgergesetz von 1913, das als Rechtsgrundlage für die „gelben Scheine“ herangezogen wird. Diese dienen als fiktionale Ausweisdokumente, während der Personalausweis symbolisch entsorgt wird. Auch andere historische Rechtsnormen tauchen immer wieder auf: So z.B. die Haager Landkriegsordnung von 1907, welche die Reichsbürger:innen gegen Übergriffe durch die „Besatzungsmacht“ schützen soll. In Milieu der nahestehenden Selbstverwalter:innen gibt es zudem vereinzelte Bezüge auf die sogenannte „Lebenderklärung“, die auf ein Gesetz („Cestui Que Vie Act“) aus dem Jahr 1666 zurückgeht. Nach diesem Gesetz wurde jede Person, die länger als sieben Jahre verschollen war, für tot erklärt. Teile der Szene melden sich dementsprechend alle sieben Jahre mit einer „Lebenderklärung“ bei lokalen Behörden oder dem US-Konsulat. Dieses Ritual kann, ähnlich wie das Entsorgen des Personalausweises, als symbolischer Akt der Befreiung aus der Unterdrückung verstanden werden.8
Von mangelnder Souveränität und der BRD-GmbH
Enge Überschneidungen gibt es mit Verschwörungstheorien über die „BRD-GmbH“. Demnach wäre die BRD nur ein Firmenkonstrukt; die eigentliche Kontrolle würden immer noch die Alliierten oder globale Eliten ausüben, welche die Profite der „GmbH“ abschöpfen würden. Tatsächlich hat am 8. Mai 1945 die Wehrmacht, nicht das Deutsche Reich selbst kapituliert. Allerdings haben die Westalliierten 1951, die Sowjetunion 1955, einseitige Friedenserklärungen an die BRD bzw. die DDR abgegeben. Spätestens mit dem 2+4 Vertrag kann der Friedensprozess als endgültig abgeschlossen gesehen werden.
Als „Beweise“ für die Existenz der „BRD GmbH“ wird gern der „Personalausweis“ oder Einträge in Firmen - oder Steuerverzeichnissen von Bund, Ländern und Kommunen herangezogen. Dass Einrichtungen des Staates im selben Wirtschaftssystem agieren und dementsprechend den gleichen Regeln der Erfassung unterliegen, wird ausgeblendet.9 Auch das Grundgesetz wird delegitimiert, da es – nomen est omen – keine „echte“ Verfassung sei. Tatsächlich forderten die Alliierten eine verfassungsgebende Versammlung, und der Begriff war ein politisches Zugeständnis an die sowjetische Besatzungszone, um die Wiedervereinigung nicht symbolisch zu erschweren. Die Alliierten genehmigten die vom Parlamentarischen Rat erstellte constitution – zu Deutsch Verfassung.10

QAnon und „Deep State“
Eng verwoben mit der „BRD-GmbH“-Verschwörungstheorie ist in Deutschland der Glaube an QAnon. Diese aus den USA stammenden Bewegung geht auf Foreneinträge von „Q“ zurück: Einer anonymen Onlinefigur, die sich als Regierungsinsider mit Geheimwissen über den angeblichen „
Einordnung
Reichsbürger:innen stellen eine unmittelbare Bedrohung für Vertreter:innen der staatlichen Ordnung dar, wie z.B. der Vorfall von Georgensgmünd 2016 zeigte, bei dem ein Reichsbürger einen Polizisten erschoss. Sie tragen zur Verbreitung von Verschwörungstheorien und Geschichtsrevisionismus bei. Teile der Bewegung agieren revanchistisch wie z.B. die „25 + 1 Bundesstaaten“-Bewegung, die u.a. Schlesien, Böhmen und Elsass-Lothringen zurückfordert. Mit dem Erstarken der AfD hat die Szene auch parlamentarischen Einfluss gewonnen: Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, Teil der „Gruppe Reuß“, wollte sich nach erfolgtem Umsturz zur Justizministerin krönen. Daneben bedienen zahlreiche AfD-Politiker:innen Narrative der Reichsbürger:innen. Der Landtagsabgeordnete Jörg Prophet bemängelte schon 2021 fehlende Friedensverträge und mangelnden Souveränität. Björn Höcke erinnerte beim AfD-Wahlkampfauftakt am 18. Januar 2025 an die Gründung des Kaiserreiches vor 153 Jahren und log die Monarchie zu einer Art Basisdemokratie um.11 Auch im AfD-Bundestagswahlprogramm finden sich Lobeshymnen auf Preußentum und Kaiserreich.12 Die Partei schielt dabei weniger auf die Ausschöpfung von Wähler:innenpotential, das bundesweit gering ausfallen dürfte. Vielmehr übernimmt sie Teile der Erzählungen, um Verwirrung zu stiften und an der Delegitimierung der Bundesrepublik zu arbeiten. Dem stellt sie scheinbar historisch legitimierte, autoritäre und antiliberale Politikmodelle als denkbare Alternative zur Demokratie entgegen. Mit ihrem Agieren verweisen die Reichsbürger:innen allerdings auch auf den „imaginären Kern der Rechts“13: Die staatliche Ordnung ist immer auch von der Bestätigung ihrer Bürger:innen abhängig. Wenn sich Teile der Bevölkerung vom Gesellschaftsvertrag in fiktionale Parallelwelten verabschieden, steht nicht nur der demokratische Konsens, sondern auch der soziale Zusammenhalt auf dem Spiel.
[1] Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzbericht 2023. verfassungsschutz.de, dort datiert 18.06.2024, S. 133, URL: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2024-06-18-verfassungsschutzbericht-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=17 (26.02.2025).
[2] Lars Legath: Reichsbürger und Selbstverwalter: Ein Fall für den Verfassungsschutz? Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt/ New York 2020, hier S. 29–32.
[3] Christoph Schönberger: Geschichte vom Reich, Geschichten vom Recht: Der Fortbestand des Deutschen Reiches als rechtliche Imagination. Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt/ New York 2020, hier S. 65.
[4] Bundesverfassungsgericht: Grundlagenvertrag. 36, 1973, S. 15.
[5] Für eine ausführliche Darstellung siehe dazu: Schönberger: Geschichte vom Reich, Geschichten vom Recht: Der Fortbestand des Deutschen Reiches als rechtliche Imagination, S. 43.
[6] Ebd., S. 40.
[7] Ebd., S. 42–43.
[8] Sophie Schönberger: Das imaginäre des Rechts. Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt/ New York 2020, hier S. 174.
[9] Jan Rathje: „Reichsbürger“ – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik. idz-jena.de, URL: https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd1-18 (26.02.2025).
[10] Ebd.
[11] Weichreite TV: Björn Höcke AfD Wahlkampfauftakt Thüringen Arnstadt 18.1.25. Youtube, dort datiert 18.01.2025, URL: https://www.youtube.com/watch?v=dUjvh5N0BSs (27.02.2025).
[12] AfD: ZEIT FÜR DEUTSCHLAND. afd.de, dort datiert 03.02.2025, S. 171, URL: https://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02/AfD_Bundestagswahlprogramm2025_web.pdf (04.02.2025).
[13]Schönberger: Das imaginäre des Rechts, S. 163.