
Links und Rechts als politische Spektren
Links und Rechts sind die einfachste Form politischer Selbst- und Fremdbestimmung. Das Schema geht auf die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung von 1789 zurück: revolutionäre Kräfte saßen links, monarchistische rechts. Diese Trennung setzte sich durch, blieb jedoch stets unscharf und ohne verbindliche Definition. Heute wird die Linke allgemein mit Gleichheit, Internationalismus und Solidarität, die Rechte mit Individualismus, nationaler Orientierung und Hierarchie verbunden. Doch historische Beispiele wie die autoritäre DDR oder heutige Querfronten und Populismus zeigen, dass diese Kategorisierung nicht immer aufgeht. Diese Unschärfe wird von Geschichtsrevisionist:innen gezielt genutzt, um Verwirrung zu stiften und eigene politische Vorstellungen, die durch den historischen Nationalsozialismus belastet sind, zu rehabilitieren.
Ursprung des Mythos
Die Nationalsozialist:innen selbst legten den Grundstein für die heutige Verwirrung. Die Begriffe „sozialistisch“ und „Arbeiterpartei“ sollten gezielt die Arbeiter:innen ansprechen, während „Deutsch“ und „National“ die wahre Stoßrichtung vorgaben. Schon die 1919 in München gegründete Vorgängerorganisation, die Deutsche Arbeiter Partei (DAP), versuchte diesen Spagat, bevor sie 1920 in die NSDAP umbenannt wurde.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus spielte der Mythos der „linken Nazis“ kaum eine Rolle. Weite Teile der deutschen Bevölkerung waren Profiteur:innen oder Täter:innen und wussten sehr wohl um ihre Vergangenheit im NS-Staat. Eine Verkehrung ins politische Gegenteil wäre den Wenigsten in den Sinn gekommen. Der Mythos um die „linken Nazis“ nahm vor allem in den 2000er und 2010er Jahren Fahrt auf. So versuchte der Journalist Joachim Fest 2003 in der TAZ zu erklären, warum die NSDAP eher links einzuordnen sei.1 Die ehemalige CDU-Politikerin Erika Steinbach provozierte 2012 einen öffentlichen Eklat, als sie in mehreren Twitter-Posts (heute X) unter anderem schrieb: „Die NAZIS waren eine linke Partei. Vergessen? NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEI…"2

Historischer Kontext
Die 1919 als Deutsche Arbeiterpartei (DAP) gegründete, später in NSDAP umbenannte Partei entstand in einem Milieu in München, das von zahlreichen antisemitischen und völkischen Gruppen geprägt war. Dazu gehörten unter anderem die okkulte Thule-Gesellschaft, der Alldeutsche Verband und der Deutsche Wehrverein. Diese Gruppierungen, einschließlich der DAP, einte ein aggressiver Antikommunismus und eine fundamentaloppositionelle Haltung gegenüber der Arbeiter:innenbewegung – insbesondere im Kontext der als bedrohlich empfundenen Oktoberrevolution in Russland.
Trotz ihrer offenen Feindschaft zum Kommunismus bediente sich die DAP, später die NSDAP, linker Politikformen und Ideen. Die nationalsozialistische Bewegung war stark von der faschistischen Ideologie beeinflusst, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa entstand. Diese Ideologie verkörperte eine widersprüchliche Synthese aus völkischem Nationalismus, Sozialismus und Antiliberalismus. Ziel war es, durch eine nationale Revolution einen „dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus und Kommunismus zu etablieren.3 Ein großer Teil der Mitglieder der DAP/NSDAP rekrutierte sich aus Veteranen des Ersten Weltkriegs. In genau diesem Milieu bewegte sich auch der spätere Reichskanzler Adolf Hitler. In seinem Buch "Mein Kampf" machte er unter anderem die Arbeiterklasse für die deutsche Niederlage verantwortlich: Die Munitionsstreiks, die 1918 erst in Österreich-Ungarn und später auch in Berlin stattfanden, bezeichnete er als „das größte Gaunerstück“ – nur deshalb, so seine Argumentation, habe die Entente den Krieg gewonnen.4 In Folge der militärischen Niederlage entstanden nicht nur Arbeiter:innenfeindliche Narrative, sondern auch antisemitische Verschwörungserzählungen wie die Dolchstoßlegende: Demnach hätten Vaterlandsverräter:innen im Hinterland durch Streiks und fehlende Unterstützung den Dolch in den Rücken der Reichswehr gestoßen, sodass der Krieg verloren ging.

Die nie überwunde, als Schmach empfundene Niederlage des 1. Weltkrieges war identitätsstiftend für eine ganze Generation nationalistischer Männer, die später ihre Heimat insbesondere in der SA fanden. Waren anfangs wenige Hundert Mitglieder in der SA registriert, die den Saalschutz bei Parteiveranstaltungen übernahmen, waren es im Jahr 1934 viereinhalb Millionen.5 Der paramilitärische Arm der NSDAP lieferte sich in den 1920er Jahren gewalttätige Auseinandersetzung um die Herrschaft „über die Straße“ mit Sozialist:innen und Kommunist:innen. Diese Kämpfe gingen bis in die frühen 1930er Jahre hinein weiter, wie z.B. die "Schlacht von Salza" im thüringischen Nordhausen zeigt.6 Trotz dieser offenen Auseinandersetzung zwischen linken und rechten paramilitärischen Parteigruppen existiert bis heute die Erzählung, die SA sei der linke Flügel der NSDAP gewesen. Tatsächlich existierte während des Aufstiegs der NSDAP in den 1920er und früher 1930er Jahren ein sich revolutionärer gerierender Flügel um den SA-Führer Ernst Röhm und Gregor Strasser, der sogar zwischenzeitlich mit dem politischen System der Sowjetunion sympathisierte. Dieser Flügel war jedoch ebenso antisemitisch und völkisch wie die Kernpartei. Der zentrale Disput zwischen Röhms vagen Vorstellungen einer „dauerhaften Revolution“ und Hitlers Interesse an einem Bündnis mit Reichswehr, Industrie und der konservativen Politik-Elite zur Machtsicherung der NSDAP, wurde am 30.06.1934 in der „Nacht der langen Messer“ entschieden und endete mit der Ermordung von unter anderen Röhm und Strasser.

Mit der am 28. Februar 1933 erlassenen Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat („Reichstagsbrandverordnung“) schlug der Straßenkampf in offenen Terror und Verfolgung um. Die Kommunist:innen wurden von der NSDAP für den Reichstagsbrand verantwortlich gemacht: Innerhalb kürzester Zeit wurden tausende Parteimitglieder der KPD und SPD in Haft genommen. Bis zum Ende der Herrschaft ermordete das NS-Regime bis zu 20.000 Kommunist:innen.7
Im Zuge der Herrschaftssicherung der NSDAP wurden zentrale Organe und Errungenschaften der Arbeiter:innnenbewegung abgeschafft: So wurden die Gewerkschaften zerschlagen und 1933 in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) überführt. Hatten die Gewerkschaften alten Typs die Interessen der Arbeiter:innenschaft gegenüber der Arbeitgeber:innenseite versucht mit Verhandlungen und Arbeitskampf durchzusetzen, sollte die DAF die gesellschaftlichen Widersprüche zu Gunsten der "Volksgemeinschaft" harmonisieren. Die mit Gewalt hergestellte, scheinbare Harmonie war jedoch mehr Trugbild als Realität. Das von den Nazis propagierte Bild des deutschen Arbeiters sollte die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmer:innen erhöhen.

Sozial- und Wirtschaftspolitik
Nach der Zerschlagung der organisierten Arbeiter:innenschaft gab es nur noch vereinzelte und desorganisierte Streiks und Arbeitsniederlegungen: Der NS-Staat versuchte hierbei mit drakonischen, an den ausgemachten Rädelsführer:innen exerzierten Strafen für Abschreckung zu sorgen: Diese reichten bis zu Hinrichtungen.8 Um die politische Entmündigung der Arbeiter:innenschaft nicht zu einer potentiellen Gefahr für das Regime werden zu lassen, schuf die NSDAP das Programm „Kraft durch Freude“ (KdF). Ferienfahrten, Freizeitaktivitäten, Sport und kulturelle Angebote sollten die Arbeiter:innen bei Laune halten und für die Belastungen im Betrieb entschädigen. Dabei knüpfte die NSDAP bewusst an die Tradition linker Arbeiter:innenvertretungen und Bildungsvereine an. Die Massenarbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise konnte die NSDAP durch Reformen, die bereits unter dem ehemaligen Reichskanzler Brüning eingeleitet wurden, deutlich reduzieren. Weitere Maßnahmen umfassten die Forcierung der NS-Familienpolitik, durch die Frauen wieder in den häuslichen Bereich der reproduktiven Arbeit gedrängt wurden, sowie die Einführung von Wehrpflicht und Reichsarbeitsdienst. Wirtschaftlich entzieht sich der Nationalsozialismus einer klaren Einordnung. Obwohl die NSDAP in ihrem 25-Punkte-Programm noch Verstaatlichungen von Großunternehmen forderte, blieben diese aus. Stattdessen wurden im Zuge der „Arisierung“ jüdische Unternehmer:innen enteignet und durch Parteigenossen ersetzt. Gleichzeitig griff das Regime mit seiner Autarkiepolitik, d.h. der Unabhängigkeit von ausländischen Rohstoffen, Waren und Dienstleistungen, und der massiven Wiederaufrüstung gezielt in die Produktion ein, sodass von einer freien Marktwirtschaft ebenfalls nicht die Rede sein konnte. Für die Industrie ergaben sich enorme Gewinnchancen, auch durch den massiven Einsatz günstiger Arbeitskräfte in Form von Millionen von Zwangsarbeiter:innen.
Einordnung
Der historische Nationalsozialismus war im Kern antikommunistisch und strebte keineswegs ein egalitäres System an. Vielmehr forcierte die NSDAP eine hierarchisierte Gesellschaft, die auf rassistischen Kriterien basierte. Die organisierte Arbeiter:innenschaft wurde erst auf offener Straße bekämpft und nach der Machtübernahme systematisch verfolgt, inhaftiert und ermordet. In der Parteisprache war der Kampf gegen die „jüdisch-bolschewistische“ Weltverschwörung omnipräsent, dennoch hält sich der Mythos der "linken Nazis" bis heute hartnäckig.
Geschichtsrevisionist:innen verweisen oft auf das vermeintlich „linke“ 25-Punkte-Programm der NSDAP aus dem Jahr 1920. Das Programm enthält tatsächlich einige Punkte, die traditionell als "links" wahrgenommen werden, wie Altersvorsorge oder die Verstaatlichung von Trust-Betrieben. Diese wenigen, sozialpolitischen Elemente werden allerdings von antisemitischen, völkischen und revanchistischen Forderungen überschattet, wie der Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Jüd:innen, der Schaffung eines großdeutschen Reiches und der Aufhebung des Versailler Vertrags.9
Die NSDAP verabschiedete sich frühzeitig von ihren Plänen zur Verstaatlichung, die die Unternehmer:innen lange Zeit abschreckten. Stattdessen suchte sie den Schulterschluss mit den politischen Akteur:innen, die ideologisch am nächsten standen, insbesondere den rechtsgerichteten Kräften von DNVP und Stahlhelm. Gegenüber der Arbeiter:innenschaft hatte die NSDAP eine ambivalente Haltung: Sie war auf deren Unterstützung angewiesen, fürchtete jedoch deren Aufbegehren. Entsprechend regierte sie mit „Zuckerbrot und Peitsche“: Während sie die politische Entmündigung der Arbeiter:innen vorantrieb, versuchte sie diese mit sozialstaatlichen Maßnahmen zu binden – jedoch stets exklusiv für „Volksgenossen“. Diese konnten sich zumindest relativ als Gewinner:innen fühlen, da es unterhalb ihres materiell abgesicherten Standes die Ausgestoßenen, Entrechteten und Verfolgten gab.
Der Mythos der "linken Nazis" verfolgt das Ziel, den Nationalsozialismus von seiner extrem rechten Ideologie zu trennen und seine Verbrechen der politischen Linken zuzuschreiben. Dadurch wird suggeriert, dass totalitäre Systeme ausschließlich "links" gewesen seien und die politische Rechte als einzig legitime Antwort auf die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden müsse. Diese Darstellung ist jedoch nicht nur historisch unhaltbar, sondern dient auch dazu, rechte Ideologien von ihrer historischen Verantwortung zu entlasten.
[Aktualisiert am: 20.02.2025, Autor: Jakob Schergaut]
Literaturverzeichnis
1 Joachim Fest: War Adolf Hitler ein Linker? TAZ, dort datiert 27.09.2003, URL: https://taz.de/War-Adolf-Hitler-ein-Linker/!703669/ (01.08.2024).
2 Yassin Musharbash: Steinbach-Eklat auf Twitter. „Die Nazis waren eine linke Partei“. Spiegel, dort datiert 02.02.2012, URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/steinbach-eklat-auf-twitter-die-nazis-waren-eine-linke-partei-a-812950.html (01.08.2024).
3 Roger Eatwell: Towards a New Model of Generic Fascism. In: Journal of Theoretical Politics 4 (1992), H. 2, S. 161–194., S. 189.
4 Hier zitiert nach: Günter Morsch: Streik im „Dritten Reich“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), H. 4, S. 649–689, hier S. 667.
5 Bernhard Sauer: Der sogenannte „Röhm-Putsch“ – eine Zäsur in der Geschichte des nationalsozialistischen Regimes. In: Einsichten und Perspektiven 2018, H. 1, S. 42–53, hier S. 44.
6 Gaststätte „Friedenseiche“ in Salza. Nordhausen im Nationalsozialismus, URL: https://www.nordhausen-im-ns.de/widerstand/friedenseiche (22.08.2024).
7 Vgl. Bernd Martin: Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismusbegriffs. Ein Vergleich zwischen Japan, Italien und Deutschland. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), H. 1, S. 48–73, hier S. 70.
8 Morsch: Streik im „Dritten Reich“, S. 681.
9 Adolf Hitler: Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, dort datiert 20.02.1920, URL: http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html (22.08.2024).